Zur Öffentlichen Daseinsvorsorge

Neoliberalismus, Infrastruktur und die Stadt

Ok, hallo Leute. Ich bringe euch jetzt ein neues Wort, das ihr bestimmt noch nie gehört habt. Es ist ein hochgradig kompliziertes theoretisches Wort, das nur die klügsten der Klugen verwenden, wenn sie zeigen wollen, wie weitreichend ihre Klugheit ist. Es ist eines dieser obskuren Worte der politischen Sprache, die ausschließlich in ausgewiesenen Expert*innenkreisen zur Anwendung kommt. Und selbst dort nur von den Geistreichsten und Wissendsten, weil es ein so präzises Wort ist, das mit seiner eindeutigen Schärfe nur von den gebildetsten Wirtschaftstheoretiker*innen eingesetzt werden kann.

Das Wort lautet „Neoliberalismus.“ OK, ja zugegeben, vielleicht ist das Wort doch nicht so unbekannt. Einige von euch haben es vielleicht doch schon einmal gehört. Es kommt gewissermaßen oft, bis ununterbrochen, in politischen Diskussionen vor und ist für viele so etwas wie „Politneulings erstes politisches Feindbild.“

Neoliberalismus hat irgendwas mit Marktradikalismus (auch so ein Wort) zu tun und ist schuld daran, dass in den letzten Jahrzehnten vieles schlecht gelaufen ist und weniger gut. Das Wort „Neoliberalismus“ ist so negativ besetzt, dass selbst die neoliberalsten aller Thinktanks sich davon distanzieren. Zwar gab es verhaltene Versuche, das Wort mit Hilfe eines Definitionsstreites zu rehabilitieren, aber es hilft nichts. Neoliberalismus klingt einfach nur noch schlecht. Immer mehr Leute distanzieren sich lautstark von der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte, machen aber trotzdem ungehindert weiter die gleiche Politik.

Das ist das Beklemmende am Neoliberalismus. Trotz aller Demonstrationen und willentlichen Abkehren vom Neoliberalismus scheint derselbe Neoliberalismus immer stärker um sich zu greifen. Wie eine beklemmende Allmacht. Aber was ist dann überhaupt der Neoliberalismus, der so düster und böse ist?

Zuerst: Der Neoliberalismus ist kein gesondertes Wirtschaftssystem. Er ist keine böse, entfesselte oder unregulierte Form des Kapitalismus. Genaugenommen hat Neoliberalismus sowieso nur indirekt etwas mit dem realen Wirtschaftssystem zu tun.

Neoliberalismus ist weniger ein bestimmtes Set von politischen Maßnahmen, die einen neoliberalen Kapitalismus erzeugen. Vielmehr ist Neoliberalismus eine politische Ideologie, die alles Denken an Kapitalismus und Märkten ausrichtet. Diese Ideologie hat das politische Denken der letzten Jahrzehnte dominiert. Und führt dazu, dass sich sämtliche Politik darauf reduziert, Geld herumzuschieben und Anreize für Märkte zu schaffen, anstatt von Seiten des Staates direkt wirtschaftlich aktiv zu werden und öffentliche Betriebe zu gründen.

Die neoliberale Ideologie ist soweit vorangeschritten, dass selbst die meisten der progressiven, anti-neoliberalen Politikansätze sich in das enge Korsett der marktwirtschaftlichen Zwänge hineinbegeben, weil sämtliche wirtschaftspolitischen Möglichkeiten außerhalb des Marktes funktional ausgeblendet werden. Der Neoliberalismus ist tief in die Sphäre des vermeintlichen Linksradikalismus vorgedrungen.

Ein Symptom davon sind die sogenannten „Umverteilungsdebatten“ der letzten Jahrzehnte. Wer etwas davon mitbekommen hat, wird wissen, dass es im Wesentlichen darum geht, Geld bei den Reichen einzusammeln und es bei den Armen wieder auszuschütten, so dass arme Leute mehr Dinge auf dem Markt kaufen können. Dadurch soll die soziale Exklusion von ökonomisch Benachteiligten verhindert werden. Daraus ergeben sich weitere Debatten, wie viel Geld ein Mensch im Monat braucht, um sich all die Dinge kaufen zu können, die ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, und so weiter…

Ich will diese Debatten hier auch gar nicht verteufeln. Sie kommen absolut nicht aus einer bösartigen Ecke. In einer Gesellschaft, die Öffentlichkeit mit Märkten gleichsetzt, ist Bargeld der zentrale Zugang zur sozialen Teilhabe. Menschen, die keine hinreichende Kaufkraft besitzen, sind für den Markt uninteressant und werden rasch aus der Gesellschaft ausgestoßen. Sicherlich kann es hier für die Ärmsten eine dringende Abhilfe schaffen, ihnen einfach das notwendige Geld zuzuschieben, damit sie wieder einkaufen können. Damit sie wieder am Markt und damit der Öffentlichkeit teilnehmen können.

Ganz besonders bei den untersten, der untersten kann es ausschlaggebend sein ihnen Geld zur Verfügung zu stellen, das es ihnen erlaubt, mit der Schicht direkt über ihnen einigermaßen gleich zu ziehen. So kann Exklusion verhindert werden. Allerdings wird diese Exklusion nur verhindert, wenn das Geld als Ersatz für Arbeitseinkommen ausgeschüttet wird und nicht zusätzlich dazu. (Fingerzeig zur Grundeinkommensdebatte.)

Das Problem ist aber, für die große Masse der Menschen ist es kaum hilfreich Geld hinzuschütten. Weil sich die Preise des Marktes an dem orientieren, was die Leute maximal bezahlen können und mehr Geld sich dann einfach in höhere Preise übersetzt.

Aber der Neoliberalismus erlaubt es uns nicht etwas anderes als das zu sehen, die sekundäre Verteilung von Geld, und das Schaffen von Zugängen zu Märkten.

Die gewaltige Zahl von politischen Maßnahmen, die ein Staat als Inverstor unternehmen könnte, wird schlicht ausgeblendet und verteufelt. Die öffentliche Daseinsvorsorge, eigentlich eines der wichtigsten Politikfelder überhaupt, wird ausgeblendet. Und das ist der eigentliche Hammer der neoliberalen Ideologie.

Die meisten Debatten über „Neoliberalismus“ in Deutschland drehen sich um die Hartz-IV-Reformen der Agenda 2010 und die damit verbundene Stigmatisierung von Arbeitslosen. Was erst an zweiter Stelle kommt, sind die seit Jahrzehnten laufenden Privatisierungswellen und der systematische Rückbau der öffentlichen Infrastruktur.

Öffentliche Krankenhäuser, Schulen, Wohnungen, Wasserwerke, Verkehrsmittel, Fernsehsender, Theater, Bäder, Parks, bis hin zu Krankenkassen: All diese Dinge wurden geschaffen, um Menschen einen Zugang zu schaffen, ohne dass sie den Marktzwängen nacheifern müssen. Diese Dinge waren maßgeblich für die Entstehung dessen, was als die „Mittelschichtsgesellschaft“ bezeichnet wird. Sicherlich gab es zu Zeiten des sogenannten Wirtschaftswunders konstant steigende Löhne, aber diese konstant steigenden Löhne konnten eben nur deswegen eine Steigerung der Lebensqualität bewirken, weil sie begleitet wurden mit stabilen Preisen bei vielen der lebensnotwendigen Güter. Und die Preise waren deswegen so stabil, weil sie als öffentliche Infrastruktur aus dem Markt ausgenommen waren.

Doch genau diese öffentlichen Güter sind der neoliberalen Ideologie ein Gräuel. Öffentliches und kollektives Eigentum wird seit Jahrzehnten in Filmen, Büchern und Serien, als unnötig, hässlich und schlecht herabgewürdigt. Gleichzeitig sorgen dauernde Investitionszurückhaltungen dafür, dass die Infrastruktur tatsächlich verfällt.

Klar ist die direkte Privatisierung, das heißt der Verkauf öffentlicher Güter, heute bei Weitem nicht mehr so beliebt wie früher. Stattdessen findet „Privatisierung durch absichtlichen Verfall“ statt. Öffentliche Güter werden einfach aus vermeintlichen Budgetnöten nicht mehr repariert oder instandgehalten, bis sie abgerissen oder geschlossen werden müssen und durch private Unternehmen ersetzt.

Diese Budgetnöte werden auch wissentlich erzeugt. Durch ununterbrochene Steuersenkungen. Durch die Schuldenbremse und den neoliberalen Fetisch der Schwarzen Null. Die Neoliberalen fordern zwar immer, dass der Staat arbeiten soll wie ein Unternehmen. Die Realität ist aber, jedes Unternehmen, dass eine solche Anti-Investitionsstrategie fahren würde, hätte seinen eigenen Bankrott schon vorab beschlossen.

Es stimmt, dass viele der europäischen „Reformen“ der letzten Jahrzehnte die Kürzungen bei Renten und Sozialgeldern enthielten. Das ganz große Ding ist jedoch der schleichende Kahlschlag an der öffentlichen Infrastruktur. So wird jeder Teil des Lebens dem Markt ausgesetzt.

Die Auswirkung davon sind in allen Politikfeldern zu spüren, doch sie werden in der Kommunalpolitik am offensichtlichsten.

Städte sind seit jeher der Ort, an dem das menschliche Zusammenleben am meisten gefordert ist. Fast jedes Ding, das Stadtbewohner*innen benutzen muss auch mit Fremden geteilt werden. Vom Treppenhaus bis zur Parkbank, jeder Abschnitt hängt vom sozialen Arrangement ab. Jeder Teil der Stadt ist ein gemeinschaftliches Gut. Doch die neoliberale Dogmatik versteht gemeinschaftliche Güter nicht. Sie kennt nur Privatgrund.

Die Kommunalpolitik hat deutschlandweit massiv gelitten an den ununterbrochenen Steuersenkungen und Budgeteinschränkungen, die in Berlin beschlossen werden. Gerade in dem Bereich der Politik, der die wichtigsten öffentlichen Güter verwaltet, fehlt das Geld. Sehr viele Kommunen sind pleite, müssen privatisieren, entweder direkt oder durch Verfall. Unter dem Schlagwort „New Public Management“ wurde in vielen Ämtern so viel Personal abgebaut, dass diese nicht mehr funktionsfähig sind und auf teure Beraterfirmen angewiesen sind, selbst für kleinste städteplanerische Maßnahmen.

Dieser Zustand ist nicht zufällig entstanden, sondern ist genau das was Jahrzehnte lang unter dem neoliberalen Ideal des schlanken Staates angestrebt wurde. Die Auswirkungen für das soziale Leben sind katastrophal, das soziale Leben ist jedoch irrelevant in einem Weltbild, das nichts als Märkte sieht.

Und nun zum Mietmarkt. Die weltweit rasant steigenden Mietpreise sind mittlerweile eines der schmerzhaftesten sozialen Probleme weltweit. Es ist der Bestandteil des Lebens, wo die himmelschreiende Ungerechtigkeit des kapitalistischen Wirtschaftssystems offenkundig wird. Leute zahlen mehr als die Hälfte ihres Einkommens an ihre*n Vermieter*innen, um in einer Wohnung wohnen zu dürfen, die es ihnen ermöglicht, schnell zur Arbeit zu kommen, um Geld zu verdienen, um die Miete zu bezahlen. Die unterschiedlichen Rollen von Eigentümer*in und Arbeiter*in im kapitalistischen Wirtschaftssystem werden offensichtlich. Die neoliberalen Ideologen, die Jahrzehnte lang mit der Angst vor Lohnnebenkosten die Kassen zerstört haben, juckt es kein bisschen, dass ein riesiger Bestandteil der deutschlandweiten Arbeitseinkommen im Nirgendwo versickert. Denn im Weltbild der neoliberalen Ideologie sind öffentliche Güter und Kassen ein nutzloses und schädliches Übel, während dubiose Konten im Nirgendwo der Motor der freien Wirtschaft sind.

Im Weltbild der Neoliberalen funktioniert der Mietmarkt genau so wie er soll. Der Markt findet den höchstmöglichen Mietpreis, den die Eigentümer ihren Bewohner*innen abnehmen können, und da die Einwohner*innen eben nicht einfach aus der Stadt wegziehen können, ist der höchstmögliche Mietpreis eben extrem hoch.

Die Neoliberalen wissen auch dass es nicht stimmt, dass Leute einfach so wegziehen können; das ist den neoliberalen Ideolog*innen durchaus bewusst. Die Stadt braucht schließlich billige Arbeiter*innen. Vielmehr geht es darum, Menschen mit niedrigen Einkommen von Einwohner*innen zu Wanderarbeiter*innen zu degradieren, die nicht in Wohnungen, sondern Arbeitslagern untergebracht werden. Sicherlich heißen diese Arbeitslager nicht so. Der Neoliberalismus findet für alles schöne Worte. Die moderne Bezeichnung lautet Podshare oder Mikrowohnung. [Faktisch Schlafsäle mit 50 Betten, Aufsicht, Ausgangssperre und W-LAN]

Diese Vision mag düster klingen, ist jedoch in einigen europäischen Städten zunehmend Realität. Und sie war auch in Deutschland Realität, sehr lange Realität. Dass es nur die Bürger*innen sind, die in Wohnungen wohnen, während die Arbeiter*innen in Baracken, Schlafsälen und Lagern hausen, ist historisch eher Normalität als Ausnahme. Denn das ist es was der Mietmarkt aus einer Stadt macht, wenn die Stadtgesellschaft nicht massiv in den Markt eingreift und ihm mit Mietspiegeln und öffentlichem Wohnbau entgegenwirkt.

Neoliberalismus ist dann, wenn man glaubt, der Mietmarkt sei angespannt, weil zu viele Leute in München arbeiten. Vernunft ist dann, wenn man erkennt, dass der Mietmarkt selbst das Problem ist und es die Aufgabe von Stadt und Staat ist, Auswege aus der Marktlogik zu finden.

Es wird Zeit, dass die Politik sich von der neoliberalen Engstirnigkeit befreit und endlich wieder handelt, anstatt darauf zu warten, dass die Märkte Gnade walten lassen.

Doch hier kommt ein weiteres Problem hinzu. Die kommunale Ebene ist zwar die Ebene der Politik, auf der öffentliche Daseinsvorsorge am deutlichsten und wichtigsten ist. Durchgeprügelt wird der Neoliberalismus aber von ganz oben, durch Steuersenkungen und Budgetvorgaben. Bankrotte Kommunen sind nur die Vollstrecker*innen einer ganz großen Privatisierung, die in Berlin und Brüssel beschlossen wurde. Das ist das Perfide.

Das soziale Leben im Viertel vor Ort muss vor Ort gestaltet werden, aber auf der höchsten Ebene verteidigt.

Wenn du dich fragst, warum Schwabing als Stadtviertel immer mehr ausstirbt… auch das ist eine Auswirkung des selbstverordneten neoliberalen Investitionsstaus, der als „Schwarze Null“ bezeichnet wird.

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