Kommentarspalten sind das digitale Wunderland in dem die Trolle leben. Eine Nachrichten-Welt voller Hass, Beschimpfungen und wilder Thesen. Eine Welt in der zahlreiche Kommentare von Redaktionen gelöscht werden müssen, mit Anmerkungen wie „Bitte verzichten Sie auf überzogene Polemik“. Ein Land in dem HMTiburon den „…Gender Pay Gap für feministisches Kampfgelaber. Viel mimimi um eine eingebildete Benachteiligung“ hält und Mambomambo Menschen, die von einem geschlechterspezifischen Lohnunterschied sprechen als „Dummschwätzer“ beschimpft. Ein Kosmos in dem Experte für nichts zu einem Artikel über Migration seine These mit einem Beitrag der Bild-Zeitung belegt.
Kommentare auf Nachrichtenseiten sind die neuen Leser*innenbriefe. Doch während zumindest die Mehrheit dieser Briefe durchdachte Argumente hervorbrachte (teils sogar als literarische Meisterwerke formuliert) kann in Kommentarform jeder Gedanke, jeder Widerspruch und jede Emotion, die sich bei den Leser*innen regt, sofort und ungefiltert in den digitalen Raum geworfen werden. Natürlich haben Zeitungen früher auch nur ausgewählte Leser*innenbriefe abgedruckt. In der Papiertonne landeten sicherlich auch zahlreiche wütende, aggressive oder auch einfach nicht lesenswerte Beiträge. Die online Partizipationsmöglichkeit war damit ursprünglich ein Demokratie-Versprechen: „alle“ können zu jeder Zeit mitreden, mitdiskutieren, mitinformieren. Doch viele meiden die Kommentarspalten mittlerweile, denn oft erscheinen sie als unsachlicher Ort für den spontanen Schlagabtausch schlecht gelaunter Mitmenschen.
Wenn ich durch die Kommentarspalten zu Artikeln über Kinderbetreuung scrolle, gewinne ich den Eindruck, 80% aller Männer seien Sexisten, die erwarten, eine warme Mahlzeit und ein geputztes Bad vorzufinden, sobald sie von der Arbeit nach Hause kommen. Lese ich die Kommentare unter Beiträgen zu Migration, bekomme ich Angst, dass die Festung Europa nur noch einen Wimpernschlag entfernt ist. Natürlich sind nicht vier Fünftel aller Männer Sexisten und ich habe auch immer noch die Hoffnung, dass die Mehrheit der Menschen für eine offene, tolerante und solidarische Weltgemeinschaft steht, doch im Wunderland der Kommentare ticken die Uhren anders.
Das Wunderland und seine Bewohner*innen wirken meist düster und der Umgangston rau. Der digitale Diskurs scheint stark von der durch die Trolle betriebenen emotionalen Provokation geprägt zu sein. Online, in ihrem anonymen Wunderland, wird vieles geschrieben und auf eine Art und Weise kommuniziert wie es in persönlichen Gesprächen nur selten der Fall ist. Im Wunderland wird viel geschimpft, gehetzt, gemutmaßt – über das tatsächliche Thema des journalistischen Beitrags, die Journalist*innen selbst, die Politik und die Mitmenschen. Bei einer Inhaltsanalyse von 6.444 Kommentaren auf Nachrichtenseiten klassifizierten amerikanische Wissenschaftler*innen 22% aller Beiträge als „unnötig respektlos/unhöflich“ (Coe et al., 2014). Daher ist es nicht verwunderlich, dass auf vielen Websites der Zeitungen ein Kommentieren nicht mehr möglich ist, oder Kommentarfunktionen nur noch für Abonnent*innen freigeschaltet sind. Einige Zeitungen halten allerdings an der Partizipationsmöglichkeit fest und setzen dafür auf ein Redaktionsteam, das durch die teils wilden Diskussionen moderieren darf. Denn natürlich haben die Kommentarspalten auch einige Vorteile, beispielsweise stellen sie auch eine interaktive Feedbackfunktion für journalistische Arbeit dar und es zeigt sich, ob die aktuellen Beiträge das Interesse und die Erwartungen der Leser*innen treffen (Noci et al., 2012). Ob diese indirekte Benotung und Bewertung der Journalist*innen jedoch so in deren Interesse ist, sei mal dahin gestellt.
Doch was passiert, wenn wir uns in das Wunderland begeben? Beeinflusst das Lesen der Kommentare unsere eigene Position zu den im Artikel vermittelten Inhalten, unsere Wahrnehmung der Meinung der Öffentlichkeit zu dem Thema oder unsere Bewertung der journalistischen Arbeit sowie Qualität des Artikels? Nehmen wir beispielsweise die Einführung einer Frauenquote eher als Ungleichbehandlung von Männern wahr, wenn wir zuvor in den Kommentarspalten gelesen haben, dass die Mehrheit es tut (die vermeintliche Mehrheit: diejenigen die in die Tasten hauen und lautstark an der Diskussion beteiligt sind)? Studien zu Folge scheinen Kommentare tatsächlich einen Einfluss auf die Wahrnehmung von im Internet verbreiteten Nachrichten und deren Qualität (Sikorski & Hänelt, 2016) zu haben, wie beispielsweise auf die Berichterstattungen über Unternehmenskrisen (Hong & Cameron, 2018). Auch unsere Wahrnehmung der öffentlichen Meinung scheint durch das Lesen von Kommentaren beeinträchtigt zu werden. Besonders dann wenn die Kommentare deutlich einer im Artikel vertretenen Position widersprechen, nehmen wir die Ansicht dieser Kommentator*innen als gesellschaftliche Meinung wahr (Lee & Jang, 2010, in Lee, 2012). Doch auch die Journalist*innen selbst bleiben wohl nicht verschont, denn laut einer Studie beeinträchtigen beleidigende Kommentare auch die Bewertung der Glaubwürdigkeit der Journalist*innen (Searles et al., 2018).
Trotz alledem sollten wir den Trollen vielleicht nicht zu viel Bedeutung beimessen, denn Studien zeigten auch, dass positive Beiträge immer noch einen stärkeren Effekt auf uns haben als negative (Sikorski & Hänelt, 2016). Vielleicht sollten wir daher auch einfach mal wieder häufiger in das Wunderland reisen, um es nicht den schimpfenden Trollen und ihren Beweisen aus der Bild-Zeitung zu überlassen.
Ein Beitrag von Charlie
Quellen:
Coe, K., Kenski, K., & Rains, S.A. (2014). Online and Uncivil? Patternsand Determinants of Incivility in NewspaperWebsite Comments. Journal of Communication 64: 658-679.
Hong, S., & Cameron, G.T. (2018). Will comments change your opinion? The persuasion effects of online comments and heuristic cues in crisis communication. Journal of Contingencies and Crisis Management 26(1):173-182.
Lee, E.-J. (2012). That’s Not the Way It Is: How User-GeneratedComments on the News Affect PerceivedMedia Bias. Journal of Computer-Mediated Communication 18: 32-45.
Noci, J. D., Domingo, D., Masip, P., Micó, J. L., & Ruiz, C. (2012). Comments in News, Democracy Booster or Journalistic Nightmare: Assessing the Quality and Dynamics of Citizen Debates in Catalan Online Newspapers. Research Journal of the International Symposium on Online Journalism 2(1): 46-64.
Searles, K., Spencer, S., & Duru, A. (2018). Don’t read the comments: the effects of abusive comments on perceptions of women authors’ credibility. Information, Communication & Society.
Sikorski, C, & Hänelt, M (2016). Scandal 2.0: How Valenced Reader Comments Affect Recipients’ Perception of Scandalized Individuals and the Journalistic Quality of Online News. Journalism & Mass Communication Quarterly 93(3): 551-571.
Die Kommentare sind zu finden unter:
Fratzscher, M. (2019). Deutschlands erbärmlicher Rückstand bei der Gleichstellung. Zeit Online 01/2019. Unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-01/gender-pay-gap-gleichstellung-deutschland-fratzschers-verteilungsfragen/seite-2.
Fratzscher, M. (2019). Nein, der Gender-Pay-Gap ist kein Mythos. Zeit Online 03/2019. Unter: https://www.zeit.de/wirtschaft/2019-03/gehaltsunterschiede-gender-pay-gap-gleichberechtigung-diskriminierung-arbeitsplatz.
Zeit Online (2019). Deutlich weniger illegale Einreisen nach Europa. Zeit Online 12/2019. Unter: https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-12/frontex-fluechtlinge-mittelmeer-italien-migration-eu.