Kulturpolitik bei der SPD

Die Ursprünge der heutigen Sozialdemokratie liegen in Arbeiterbildungsvereinen. Die heutige Sozialdemokratische Partei geht auf frühe Arbeiterbildungsvereine zurück, aus deren direkten Umfeldern auch zentrale Impulse zur Gründung einer eigenen Arbeiterpartei kamen. Die Geschichte der Arbeiterbildungsvereine beginnt bereits in der revolutionären Vormärz-Zeit ab den 1830er Jahren. Beispielsweise zählte die Hamburger Bildungsgesellschaft – Bildungsverein zur Hebung der arbeitenden Klasse – 1847 vierhundertfünfzig Mitglieder. Während sich zu Beginn viele kleine Handwerker und emigrierte Intellektuelle in Arbeiterbildungsvereinen organisierten, traten später auch zahlreiche Arbeiter aus anderen Wirtschaftszweigen bei. Ihnen war gemein, dass sie von Armut und sozialer Deklassierung bedroht waren. In den Arbeiterbildungsvereinen erhielten (ausschließlich männliche) Tagelöhner die Möglichkeit, sich politisch und beruflich weiterzubilden. Die Vereine waren Foren der Selbstorganisation und des gegenseitigen „Empowerments“. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering erzählt die Anekdote, dass in dieser Zeit eine Runde von zehn Zigaretten drehenden Männern wie folgt aussah: „Neun machten die Arbeit, und einer saß davor und las aus einem Buch vor, das man gemeinsam gekauft hatte, damit man ein bisschen politische und gesellschaftliche Bildung bekam.” In den Vereinen wurden Vorträge über Geschichte und Gesellschaft, Sprach-, Rhetorik- und technische Zeichenkurse organisiert. Man pflegte Geselligkeit, führte kulturelle Veranstaltungen durch, hielt Schulungen ab und erlernte politische Strategien. Dabei lautete das doppelte Ziel erstens ein gemeinsames Klassenbewusstsein zu entwickeln und zweitens den geschäftlichen Aufstieg durch Bildung möglich zu machen. Bildung wurde dabei sowohl grundsätzlich, beruflich und politisch

verstanden. Es wurden Hilfskassen und Bibliotheken eingerichtet. Natürlich wurde auch das Feiern von Festen nicht vernachlässigt. Mit der Niederschlagung der Revolution von 1848/49 wurden viele Arbeiterbildungsvereine aufgelöst. Darüber hinaus verpflichteten sich die Bundesländer zu einer verschärften Verfolgung von Arbeitervereinen. In den 1860er Jahren lockerten sich staatliche Repressionen, was zu einer Re-Organisation der Arbeiterbewegung führte. Anfangs standen einige Vereine noch dem bürgerlichen Liberalismus nah. Die zunehmende Erfahrung der Unterdrückung (z.B. durch das Organisationsverbot) sowie die Industrialisierung und Verelendung großer Bevölkerungsteile führten zu einer Politisierung der Vereine. Mehr und mehr wendeten sich die Arbeiter der entstehenden sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zu. Auch der Vorläufer der heutigen SPD, der Allgemeine Deutsche Arbeiterverein, steht in dieser Tradition. Sein Vorsitzender Ferdinand Lassalle war davon überzeugt, dass der soziale Aufstieg durch Bildung möglich ist. Bis heute ist dies eine zentrale Forderung der SPD, die unmittelbare Konsequenzen für die Kultur- und Bildungspolitik beinhaltet.

Sozialdemokratische Kulturpolitik bedeutet Partizipation und Empowerment! Der Gründungsmythos der Arbeiterbewegung ist bis heute Wegweiser jungsozialistischer und sozialdemokratischer Politik. Auch wenn es heute keine Arbeiterkultur im historischen Sinne mehr gibt, bieten ihre Grundzüge und Prämissen in abgeschwächter Form und mit veränderten Gestaltungsmitteln Orientierung. Dies gilt in besonderer Weise für die Kulturpolitik, da das mit der Sozialdemokratie verbundene Aufstiegsversprechen ohne grundlegende kulturelle Fähigkeiten und Bildung (z.B. Sprache, Ausdruck, Allgemeinbildung, Verständnis von Gesellschaft) nicht möglich ist. Sozialdemokratische Kulturpolitik setzt auf individueller Ebene ein und bezweckt ein Empowerment des Einzelnen über Bildung. Ihr Ziel ist die größtmögliche gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation. Aus diesem Grund sind Bildungs- und Kulturpolitik aufs Engste miteinander verknüpft.

Ein Theater oder eine Oper wird nicht zur Reproduktion von Eliten gefördert, sondern um den Zugang zu Kunst und Bildung für einen möglichst großen Teil der Gesellschaft zu ermöglichen. Kulturpolitik im Kontext der Sozialdemokratie zielt auf die individuelle Persönlichkeitsentwicklung und eine umfassende Teilhabe-Gerechtigkeit, sodass ein möglichst großer Personenkreis und insbesondere jene, die durch Herkunft keinen Zugang zu Kultur und Bildung haben, Aufstiegsmöglichkeiten finden und in Würde leben können. Mit der Idee des Sozialismus verbindet sich die Demokratisierung von Politik, Wirtschaft und Kultur. Im Sinne Willy Brandts bedeutet „Mehr Demokratie wagen“ einen gesamtgesellschaftlichen Anspruch durchzusetzen, den Zugang zu Bildungsmöglichkeiten (Schule und Universität) sowie zu kulturellen Einrichtungen (Theater, Musik, Museum, Kino etc.) zu ermöglichen. Die bestmögliche individuelle Entfaltung aller Bürger*innen soll unabhängig von Herkunft, Klasse, Religion, Geschlecht und Besitzverhältnissen möglich sein. Die Ausbildung der individuellen Fähigkeiten jedes Einzelnen Mitglieds der Gesellschaft steht deswegen im Zentrum sozialdemokratischer Kultur- und Bildungspolitik.Aus diesem Grund ist ein Grundpfeiler sozialdemokratischer Kulturpolitik die Ausweitung der Teilhabe an Bildung, die wiederum die Voraussetzung für soziale Mobilität und Chancengerechtigkeit bedeutet. Wie das frühe Beispiel der Arbeiterbildungsvereine zeigt, konnte die Forderung nach sozialer Mobilität und Teilhabe im 19. Jahrhundert zunächst über Selbstorganisation im Rahmen von Vereinen realisiert werden.

In der bekannten Schrift „Kultur für Alle“ von Hilmar Hoffmann aus dem Jahr 1978 wird dieses Ziel wie folgt beschrieben:„Jeder Bürger muss grundsätzlich in die Lage versetzt werden, (kulturelle, d.V.) Angebote in allen Sparten und mit allen Spezialisierungsgraden wahrzunehmen und zwar mit einem zeitlichen Aufwand und einer finanziellen Belastung, die so bemessen sein muss, dass keine einkommensspezifischen Schranken aufgerichtet werden. Weder Geld noch ungünstige Arbeitszeitverteilung, weder Familie oder Kinder noch das Fehlen eines privaten Fortbewegungsmittels dürfen auf die Dauer Hindernisse bilden, die es unmöglich machen, Angebote wahrzunehmen oder entsprechende Aktivitäten auszuüben.“ (Hoffmann, Hilmar: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle, Frankfurt/M: S. Fischer, 1979.).

Auch nach vierzig Jahren ist der Begriff “Kultur für Alle” ein wiederkehrender Begriff in politischen Sonntags- und Wahlkampfreden. Wer aber sind diese “alle”? Wie sieht Teilhabegerechtigkeit unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen aus? So aktuell die Grundlagen sozialdemokratischer Kulturpolitik noch immer scheinen, müssen sie vor veränderten Bedingungen und Herausforderungen neu interpretiert werden. Eine Möglichkeit, diese Interpretation vorzunehmen bietet beispielsweise der Cultural Green Deal (siehe Artikel hierzu).

Ein Beitrag von Christian Steinau