Urlaub – ein soziales Brennglas

Bei all dem Haufen Mist, den 2020 bislang über die Menscheit abgeladen hat, sind auch ein paar Lichtblicke dabei. Einer davon ist folgender: Wer dieses Jahr auf die Frage ‘Wohin geht’s in den nächsten Urlaub?’ mit ‘Nirgendwohin, ich bleibe daheim’, antwortet, bekommt mal keinen leicht verwunderten und schlimmstenfalls abschätzigen Blick zu sehen. In Coronazeiten gilt als verantwortlich, wer zu Hause bleibt.

Interessant ist, dass wirklich viele Leute schon wieder ins Ausland reisen, Coronawarnungen und Konsequenzen wie Selbstisolation hin oder her. Der Wunsch nach Abwechslung, Strand oder im Zweifel einem Besäufnis vor exotischer Kulisse wiegt bei vielen anscheinend schwerer als die Appelle an die Vernunft und Sorge vor Ansteckung. Das ist aber eine andere Geschichte. Hier nehmen wir uns dem Thema Urlaub mal von seiner klassischen sozialen Bedeutung her an: Status. Ich fahre in Urlaub, also bin ich. Wer braungebrannt aus Teneriffa, Malle oder Rimini zurück kehrt demonstriert seine wirtschaftliche Stärke. Funktioniert heute zwar nicht mehr ganz so gut, da Klimawandel sei Dank auch in Deutschland die Sommer heißer werden und man es nun auch hierzulande gut schafft, die weiße Haut abzudunkeln. Übrigens eine spannende Änderung der gesellschaftlichen Wahrnehmung im Vergleich zur früher als vornehm empfundenen “Adelsblässe” und der dazu entgegenstehenden “Bauernbräune” (heute bekannt als Bauarbeiter*innenbräune). Dafür werden die Reiseziele exotischer, sei es nun Thailand, Bali, Buenos Aires. Reisen muss man sich leisten können. Und gerade im wohlstandsverwöhnten Mitteleuropa ist der jährliche Urlaub wo auch immer beinahe obligatorische Pflicht, genau so wie der Tannenbaum zu Weihnachten oder die Silvesterrakten zu Neujahr. Für jemanden wie mich, der mit seiner Familie in seiner ganzen Kindheit und Jugend nur ein einziges Mal ins Ausland in den Urlaub gefahren ist, war diese Pflicht immer ein blanker Hohn. Und die Gespräche mit den Klassenkamerad*innen kurz vor den Sommerferien stets ein Grund zur Scham. Denn wir konnten uns keinen Urlaub leisten. Andere Dinge waren wichtiger. Die Miete zum Beispiel oder Essen. An Urlaubsreisen war nicht zu denken. Sehr zur Verwunderung meiner Mitschüler*innen. Für die ging es in den letzten Wochen und Tagen vor der Sommerpause um nichts anderes – wo fahrt ihr hin, was macht ihr da, wie ist das Hotel etc. etc. Themen, von denen ich von vornherein ausgeschlossen war. Fliegen, Meer, Hotelübernachtungen: Ganze Generationen sind damit großgeworden als unumstößlicher Teil ihres Lebensstandards. Für mich bedeuteten die Sommerferien dagegen immer viel Zeit allein im Garten und am Spielplatz, meine Kumpels waren ja nicht da. Und viel Zeit allein vor der Spielekonsole. Zumindest dort konnte ich fremde Länder oder sogar Welten erkunden, was mir in der Realität nicht möglich war. Auch heute ist meine Neigung bzw. mein Bedürfnis zu Reisen weniger stark ausgeprägt als bei vielen meiner Altersgenoss*innen, zumindest empfinde ich es so.

Urlaubsreisen zementieren eine Erwartung an den Lebensstandard, der schon in naher Zukunft schwierig aufrechtzuerhalten sein wird. Meine Mutter sagt in meiner Kindheit oft, dass die Deutschen erst auf die Straße gehen werden, wenn sie sich keinen Urlaub mehr leisten können. Ironischerweise ist meine Mutter nie auf die Straße gegangen um zu demonstrieren, obwohl wir uns keinen Urlaub leisten konnten. Dennoch verdeutlicht dieser Satz auf schöne Weise die Bedeutung von Urlaubsreisen ins Ausland für die deutsche Seele. Im Zuge eines immer stärker werdenden Klimawandels und auch eines stärker werdenen Wohlstandsgefälles werden voraussichtlich immer weniger Menschen in Deutschland Urlaubsreisen antreten, sei es aus ökonomisch-pragmatischen Gründen oder politisch-idealistischen. Durch diese Entwicklung wird Urlaub aber wieder vermehrt als ein Reizthema auftreten – erstens weil Urlaub noch stärker als in der Vergangenheit Unterschiede zwischen “arm” und “reich” aufzeigt, und zweitens, weil sich Urlaubsfahrer*innen vielleicht bald andere Frage gefallen lassen müssen. Da heißt es dann nicht mehr ‘Wie wars im Urlaub’, sondern ‘Warum bist nach xyz in Urlaub gefahren??’ Sind dir die Umweltschäden nicht bewusst??’.

Für mich ist Urlaub im allgemein wahrgenommenen Sinn – also eine Reise ins Ausland – bis heute etwas sehr besonderes. Stattdessen bedeutet Urlaub für mich erstmal nichts anderes als die Abwesenheit der Pflicht zur Arbeit. Urlaubsfahrten waren immer optional und von vielen Faktoren abhängig. Sie sind ein Privileg, keine Selbstverständlichkeit. Aber in der Wahrnehmung eines großen Teils der Öffentlichkeit ist dieses Privileg geradezu ein Bürgerrecht. Es heißt ja gern, den Deuschen ist ihr Urlaub heilig. Um diesen Götzen zu beschützen, bräuchte es in unserem Land aber eine sozialere und nachhaltigere Politik um Urlaub umwelt- und sozialverträglich zu gestalten. Mit notwendigen Änderungen, aber auch mit Augenmaß.

Ein Beitrag von Stefan