Am 26.09. jährt sich ein Verbrechen, dass die Bundesrepublik Deutschland in ihren Grundfesten hätte erschüttern sollen. Vor 39 Jahren zündete ein rechtsextremer Student auf Deutschlands größtem Volksfest am Haupteingang an der Bavariastraße eine selbstgebastelte Bombe aus einer Mörsergranate und einem Feuerlöscher. Die grausige Bilanz des Tages: 12 Tote, 213 Verletzte.
Augenzeugenberichte lesen sich wie Fragmente eines Kriegsromans oder einer Endzeitgeschichte. Der Student und Taxifahrer Bernd Kellner berichtete 2008 dem Spiegel:
“Ich sah, wie eine zerfetzte Leiche von meinem Kofferraum rutschte. […] Es war alles ruhig, niemand schrie, niemand stöhnte, und ich stand da, inmitten von Toten und Verletzten. Kurz vor meiner Ankunft war der Platz mit Hunderten von Menschen bevölkert gewesen. Alle, die es noch konnten, waren weggerannt. Ich war der einzige stehende Mensch in all dem Chaos. […] Nach ein paar Minuten kamen die Leute zurück. Als erstes ein kleines Mädchen. Sie kam auf mich zu, nahm mich an der Hand, führte mich zu einem anderen Mädchen und sagte: “Schau mal, das ist meine Schwester. Ist sie tot?” Das Kind lag am Boden mit offener Schädeldecke. Die Mutter der beiden lag daneben. Ihr eines Bein war weggerissen, aber sie schrie nicht und schien keine Schmerzen zu haben. Auch blutete sie nicht. Neben ihr saß ihr Schäferhund.”
Es erscheint selbstverständlich, dass die Ermittlungen zu diesem abscheulichen Verbrechen mit Hochdruck und größter Genauigkeit geführt wurden. Diese Beschreibung wäre allerdings ein Euphemismus für die Arbeit der Polizei. Für die Beamt*innen, die mit der Aufklärung des Falls betraut waren, stand bereits im November des selben Jahres fest: der Rechtsextremist Gundolf Köhler, der bei dem Anschlag selber umkam, war ein Einzeltäter. Doch wer war Gundolf Köhler?
Der 21-jährige Geologiestudent aus Donaueschingen ist ein Paradebeispiel eines sich selbst radikalisierenden Rechtsradikalen: Bereits in seiner Jugend sammelte er NS-Devotionalien, hatte ein Faible für alles militärische und war Mitglied in einem Schützenverein sowie bei der Wiking-Jugend. Er lernte das Bombenbauen bei der Wehrsportgruppe Hoffmann und nahm nach der Aufnahme seines Studiums in Tübingen an mehreren Veranstaltungen rechtsextremer Hochschulgruppen teil. Die Polizei unterstellte, dass der mittelmäßige Student und soziale Einzelgänger Köhler das perfekte Bild des “gestörten Einzeltäters” verkörperte. Dabei war Köhler tatsächlich sozial recht aktiv, spielte in einer Band und reiste mit Freunden durch Europa.
War Gundolf Köhler also wirklich der geisteskranke, sozial isolierte Wirrkopf, für den die Polizei ihn hielt?
Es ist zu einem guten Teil das Verdienst des Journalisten Ulrich Chaussy, dass diese Diskussion überhaupt zustandekam. Denn die offizielle Version stand spätestens ab Mai 1981 mit dem Schlussvermerk der SoKo “Theresienwiese” fest: Gundolf Köhlers Verbindungen in die rechtsextreme Szene der Bundesrepublik hatten nichts mit der Tat zu tun- er war ein Einzeltäter.
Nach dieser Feststellung werkelte die Polizei auf Antrag des Generalstaatsanwalts noch für ein gutes Jahr an dem Fall rum, bis auch in dem Schlussbericht im November 1982 keine weiteren Anzeichen für irgendwelche Kompliz*innen genannt wurden. Auch als Chaussy und seine Unterstützer*innen immer weitere Hinweise für eine mögliche Beteiligung einer größeren Gruppe fanden wurde das Verfahren nicht wieder aufgenommen. Während den eigentlichen Ermittlungen waren Zeug*innenaussagen nicht aufgenommen worden und einige Beweise gingen verloren. So wurde eine abgetrennte Hand, die am Tatort nicht zugeordnet werden konnte, nach der Untersuchung offensichtlich einfach verlegt und erst 1997 wiederaufgefunden-und danach sofort vernichtet. Nach offizieller Aussage gehörte die Hand dem Täter. Ein eventueller Sprengstofflieferant, der Rechtsradikale Heinz Lembcke, beging vor seiner Aussage Selbstmord- und wurde überraschenderweise danach in den Ermittlungen nicht mehr erwähnt.
32 Jahre lang herrschte also von Behördenseite Stille zu dem Fall. Anträge auf eine Neuaufnahme wurden stets abgeschmettert. Erst im Dezember 2014 wurde einem dieser Anträge stattgegeben, also zu einem Zeitpunkt, an dem zahlreiche Augenzeug*innen schon längst nicht mehr lebten und einige wichtige biologische Beweisstücke schon einiges von ihrer Qualität eingebüßt hatten. Die Kritik an den Ermittlungen und der Aufarbeitung des Falls und das Auftauchen von immer mehr Hinweisen wurde der Druck auf die Polizei offensichtlich zu groß. Schnell stellte man fest: Die Hand konnte nicht Köhler gehört haben, da seine Hände durch die Explosion in kleine Teile gerissen wurden, wie die Wundballistik zeigte. Auch die Aktionen des Juristen Dr. Hans Langemann, der verfrüht den Namen des Attentäters herausposaunte und somit eventuelle Mitverschwörer warnte, stehen in einem neuen Licht. In der Tat flohen einige potenzielle Mittäter*innen wenige Tage nach dem Attentat in den Libanon oder nach Argentinien- eine traurige Neuauflage der Rattenrouten, wenn man so will. Der Landesverfassungsschutzbeamte Langemann war, wie sich nun herausstellt, maßgeblich in die Vernichtung von Beweisen verwickelt und hielt somit offensichtlich die Hand über die Ermittlungen. Auch der finale Einfluss seines Wirkens konnte nicht abschließend beurteilt werden.
Gerade die Wehrsportgruppe Hoffmann, auf die die meisten Finger zeigen und die die deutlichsten Verbindungen zu Köhler aufweist, rückte immer deutlicher in den Fokus der Ermittler*innen.
So oder so, im Mai diesen Jahres wurden die Ermittlungen wieder eingestellt- ergebnislos. Laut Aussage der Ermittler*innen ist “keine letztliche Klärung” möglich. Öffentlicher Aufschrei? Fehlanzeige. Das Interesse an der vollständigen Aufklärung des Attentates geht gegen Null. Auch wenn Bayerns damaliger Innenminister Herrmann bei der Uraufführung eines Films über Chaussys Werk namens “Der blinde Fleck” herausposaunte, dass es ihm wichtig sei, dass “solche Dinge angegangen werden”, war auch der politische Wille zur Aufklärung in Bayern schlichtweg nicht vorhanden.
Ulrich Chaussy klingt, wo auch immer er auftritt und interviewt wird, deutlich konsterniert. Das Oktoberfestattentat, ein rechtsradikales Attentat, der schwerste Terroranschlag in der Geschichte unseres Landes, bleibt unaufgeklärt- und es herrscht das große Schweigen im Walde. Gleich den NSU-Morden ist es augenscheinlich, dass rassistische und rechtsradikale Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland gerne als Einzeltaten oder Kleingruppenaktivitäten gewertet werden. Ist es zu unbequem, dass gerade im Heimatland des Nationalsozialismus nationalsozialistische Netzwerke existieren, die offen Morde begehen? Es mag verbittert und traurig klingen, aber eines lässt sich festhalten: Behörden und Öffentlichkeit haben bei der Aufklärung und angemessenen Erinnerung an das Oktoberfestattentat versagt.
Ein Beitrag von Matthias