Gewerkschaften und Corona: „Solidarisch ist man nicht alleine!“

Der Deutsche Gewerkschaftsbund sagt die Demos und Kundgebungen am 1. Mai ab. Das ist historisch, das hat es noch nie gegeben, am Kampftag der Arbeiter*innenklasse gehen seit über 150 Jahren weltweit die Menschen auf die Straße, um für die Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämpfen und für gesellschaftlichen Wandel. Aber nicht in diesem Jahr. 2020 wird in die Geschichte eingehen, als das Jahr der Krise, das Jahr, in dem alles anders war – und in der Reihe zahlreicher Absagen von Großveranstaltungen stehen jetzt auch noch die 1. Mai- Kundgebungen der Gewerkschaften. Aus Infektionsschutzgründen ist das nur konsequent und bei allem, was in den letzten Wochen passiert ist, auch nicht verwunderlich. Trotzdem: ohne hier eine Wertung vornehmen zu wollen, ob nun die 1. Mai-Demo wichtiger ist als das Fußballspiel oder die Wiesn, die zweifellos für die Stiftung von Gemeinschaftssinn und Spaß unabdingbar sind, kann man trotzdem sagen: sie ist zumindest etwas anderes, nämliche eine politische Versammlung: Die Demonstrationen am 1. Mai sind der Ausdruck von Zusammenhalt und Integrität, ein kollektives Bekenntnis zu unserer Demokratie und den Werten Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Die Absage der Kundgebungen am 1. Mai ist die politische Konsequenz von Kontaktverbot, Ausgangssperre und Versammlungsverbot (auch die Grenzkontrollen gehören letztlich in diese Aufzählung).

Was bedeutet die Absage für Gewerkschafter*innen und Sozialdemokrat*innen? Eines ist sicher: sie bedeutet nicht das Ende der Arbeiter*innenbewegung, nicht das Ende der Demokratie (das manche schon läuten hören wollen) und auch nicht das Ende des gesellschaftlichen Zusammenhalts! Im Gegenteil, „überall erblühen neue Formen der Solidarität“, so formuliert es Reiner Hoffmann in der Pressemitteilung des DGB zur Absage und so erleben wir jeden Tag den Zusammenhalt vor Ort in der Nachbarschaft. Unzählige Initiativen in allen Bereichen des kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenlebens sind aus dem Boden geschossen, die Menschen sind aufmerksam und rücksichtsvoll. Man kümmert sich. Das ist die positive Seite, die wir dem Ganzen abgewinnen können.

Andererseits häufen sich rassistische Äußerungen und Beschimpfungen von Menschen, die aufgrund ihres Aussehens als vermeintliche Verursacher der Verbreitung identifiziert werden; die Rufe nach Abschottung sind ungemindert laut und von rechts wehen uns Theorien der Durchseuchung, die das Volk stärker macht, an. Dass die aktuellen Umfragewerte der sogenannten Alternative aufgrund des Krisenmanagements der Regierung leicht gesunken sind, ist zwar für den Moment ein wenig beruhigend, ob diese Entwicklung von Dauer ist, bleibt abzuwarten.

Außerdem gibt es noch dieses Flüchtlingslager am Rande Griechenlands, das dringend evakuiert werden muss – das schon längst hätte evakuiert werden müssen, weil die Bewohner*innen sowieso unter menschenunwürdigen Bedingungen leben – und jetzt aufgrund der schlechten medizinischen Versorgung akute Lebensgefahr für alle im Lager besteht. Und nicht zuletzt jährt sich dieses Jahr das Ende des Zweiten Weltkriegs und des Holocausts zum 75. Mal. Dass ein öffentliches Gedenken im Moment nicht möglich ist, dass alle Gedenkfeiern ohne Teilnehmer*innen stattfinden müssen, schränkt die öffentliche Wahrnehmung ein. Die DGB Jugend München hat das Thema „Erinnern heißt Kämpfen“ zum Motto der 1. Mai-Demo in München gemacht und als Jahresthema für 2020 gesetzt. Damit wollen wir Stärke zeigen im Kampf gegen den Faschismus vor dem Hintergrund des aktuellen rechten Terrors, der immer noch viel zu wenig politische Aufmerksamkeit bekommt, und wir wollen ausdrücken: dieser Kampf ist mit der Arbeiter*innenbewegung verbunden! Das ist auch deswegen wichtig, weil aktuell am Beispiel Ungarns zu beobachten ist, wie schmal der Grad zwischen Rechtsstaat und Willkürherrschaft ist.

Es ist großartig, was die DGB Gliederungen, Gewerkschaften, Juso- und SPD-Ortsverbände und viele andere aktuell für einen digitalen 1. Mai unter dem Motto „Solidarisch ist man nicht allein“ vorbereiten. Man kann davon ausgehen, dass auch am 1. Mai 2020 viel los sein wird. Wir sind und bleiben lautstark! Aus politischer, demokratischer und gesamtgesellschaftlicher Sicht bleibt es aber ein Verlust, dass wir an diesem wichtigen Tag nicht demonstrieren können. Denn wir können dem rechten Rauschen nicht kollektiv und öffentlich − selbstverständlich symbolisch gesprochen – den Mittelfinger zeigen. Wie jede*r weiß, die*der Social Media nutzt, ist es ungemein schwieriger im digitalen Raum aus der eigenen Bubble heraus, als mit wehenden Fahnen in den öffentlichen Raum hineinzutreten.

Trotz der großen Präsenz, die der DGB, die Gewerkschaften, die Jusos und hoffentlich die gesamte politische Linke dieses Jahr beim digitalen 1. Mai aufbringen werden, fehlt mit den Demonstrationen und Kundgebungen ein wichtiges, öffentlichkeitswirksames Druckmittel, um gewerkschaftliche Forderungen zu unterstützen. Viele Menschen kämpfen momentan mit existentieller Bedrohung und stehen vor großen persönlichen Herausforderungen. Jenseits der Diskussion um die Absage des 1. Mai und den Anstrengungen um Alternativen ist es eine der wichtigsten Aufgaben der Gewerkschaften, die Arbeitnehmer*innen gut durch die Krise zu begleiten, ihre Rechte zu verteidigen und den Schutz in der Krise einzufordern. Vor welche Herausforderungen stellt das die Gewerkschaften und was sind die zentralen Forderungen?

Die Gewerkschaften sind die Interessenvertretung der Arbeitnehmer*innen, sie verhandeln Tarifverträge für Mitglieder und verbessen damit deren Arbeits- und Lebensbedingungen. Damit sind Gewerkschaften seit Beginn ihrer Geschichte politische Organisationen. Als Konsequenz aus ihrer politischen Zersplitterung in der Weimarer Republik und der Gleichschaltung im Nationalsozialismus schlossen sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges einige Gewerkschaften in Deutschland unter dem Dach des DGB zusammen; die Gewerkschaften im DGB sind nicht mehr nach Berufsgruppen organisiert, sondern arbeiten als Einheitsgewerkschaften nach dem Prinzip: ein Betrieb, eine Gewerkschaft. Der DGB hat heute acht Mitgliedsgewerkschaften: IG BAU (Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt), IG BCE (Bergbau-Chemie-Energie), IG Metall, GdP (Gewerkschaft der Polizei), EVG (Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft), GEW (Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft), Ver.di (Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft), und NGG (Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten). Sie kümmern sich in ihrer Branche und in ihren Betrieben um die Tarifpolitik und bieten z.B. Rechtsberatungen für ihre Mitglieder an; der DGB führt als Dachverband keine Tarifverhandlungen, unterstützt aber die Gewerkschaften in ihrer Arbeit und arbeitet in seinen Fachabteilungen zu politischen Grundfragen. Der DGB vertritt außerdem verschiedene Interessen- und Personengruppen: zum Beispiel Beamt*innen, Frauen*, Senior*innen und Jugend, also Auszubildende, Student*innen und junge Arbeitnehmer*innen. Die Mitglieder der DGB-Gewerkschaften kommen aus unterschiedlichen Bereichen und arbeiten teilweise unter sehr unterschiedlichen Bedingungen. Dementsprechend breit gefächert sind die Reaktionen und Forderungen des DGB und seiner Mitgliedgewerkschaften auf die Corona-Krise.

Eine der wichtigsten Forderungen des DGB bezieht sich auf die Kurzarbeit, die aufgrund der Corona-Ausfälle stark angestiegen ist. Das Kurzarbeiter*innengeld muss dringend aufgestockt werden! In den letzten Wochen konnten die Gewerkschaften bereits Vereinbarungen mit Betrieben und Unternehmen treffen und so das Kurzarbeiter*innengeld für viele Arbeitnehmer*innen verbessern. Es bleibt aber die Notwendigkeit einer gesetzlichen Erhöhung. Außerdem setzt sich der DGB gemeinsam für eine echte Anerkennung der Berufsgruppen ein, die momentan besonders belastet sind, wie zum Beispiel die Pflege und andere Berufe im Gesundheitssektor. Es reicht nicht am Fenster zu klatschen, Sonderzahlungen sind selbstverständlich ein guter erster Schritt, aber es braucht besseren Schutz und Tarifverträge für Pflege-Beschäftigte; das gilt auch für den Einzelhandel und die Gastronomie.

Besonders die DGB Jugend kämpft für Auszubildene, Studierende und junge Beschäftigte. Sie hat einen breiten Forderungskatalog aufgestellt, damit sie nicht durchs Netz fallen.

Das heißt einerseits, der Ausbildungs- und Lernbetrieb muss bestmöglich aufrecht erhalten bleiben, damit Azubis vorbereitet sind und ihre Ausbildung gut abschließen können. Abschlussprüfungen müssen in der Corona-Zeit ermöglicht werden und Übernahmevereinbarungen behalten ihre Gültigkeit. Gleichzeitig heißt es, die Finanzierung zu sichern. Entlassungen von Azubis aufgrund Corona müssen verhindert werden, zum Beispiel durch die Nutzung von Ausbildungsverbunden, die dementsprechend gefördert werden sollen. Außerdem dürfen Azubis nicht in Kurzarbeit fallen; sie haben im Falle von Kurzarbeit im Betrieb den Anspruch auf sechswöchige Lohnfortzahlung in voller Höhe. Der DGB konnte mit einer Petition vorerst erfolgreich durchsetzen, dass dieses und andere Schutzrechte des BBiG nicht außer Kraft gesetzt werden. Es ist aber durchaus möglich, dass die Diskussion darum noch nicht beendet ist. Damit es ab Herbst nicht zu einem Einbruch auf dem Ausbildungsmarkt kommt und hunderttausende junge Menschen ohne Ausbildungsplatz, d.h. arbeitslos, bleiben, braucht es sofort ein staatliches Sonderprogramm zur Ausbildungsförderung.

Ebenso wie für Azubis geht es für Studierende einerseits darum, den Lehr- und Lernbetrieb an den Hochschulen und Universitäten aufrechtzuerhalten und Prüfungen möglich zu machen. In Bayern wurde bereits durch das Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst beschlossen, dass das Sommersemester nicht auf die Regelstudienzeit angerechnet wird. Das ist wichtig für den Studienverlauf und ebenso für die Finanzierung, denn das BAföG ist von der Regelstudienzeit abhängig. Nicht alle Studierende sind BAföG berechtigt (lediglich etwa 18% beziehen BAföG), der Großteil ist auf den eigenen Verdienst zur Finanzierung des Studiums angewiesen; meistens verdienen sie ihr Geld in 450€-Jobs in unterschiedlichen Branchen, als Hilfskräfte mit befristeten Verträgen oder als Werkstudent*innen. In der Regel arbeiten sie nicht sozialversicherungspflichtig, haben also weder Anspruch auf Kurzarbeiter*innengeld noch auf Arbeitslosengeld oder Grundsicherung. Mit Beginn der Corona-Schließungen dürfen sie nicht mehr arbeiten und verdienen kein Geld oder haben ihren Job verloren. Zum Schutz und zur Hilfe für Studierende in der Corona-Krise fordert die DGB Jugend daher den befristeten Anspruch auf ALG II für Studierende, die sofortige Erhöhung der Einkommensfreibeträge im BAföG und die unbürokratische Beschleunigung von Neuanträgen, das Aussetzten der Altersgrenzen bei der Mitversicherung in der Familienkrankenversicherung und die Aussetzung von Studiengebühren, besonders für dual und international Studierende. Den Vorschlag von Bundesbildungsministerin Karliczek, Darlehen für Studierende anzubieten, kritisieren die Gewerkschaften: Eine persönliche Verschuldung, wenn auch zinsfrei, kann auf keinen Fall eine Lösung sein.

Selbstverständlich gibt es viele Menschen, die nicht von den Gewerkschaften direkt vertreten werden, die aber natürlich trotzdem Schutz und Hilfe in der Krise und danach brauchen. Daher sind zum Beispiel die Ausnahmeregelungen im Mietrecht ein wichtiger Schritt: bis zum 30. Juni dürfen Mieter*innen nicht gekündigt werden, wenn sie krisenbedingt ihre Miete nicht zahlen können. Die entstehenden Mietschulden müssen dann innerhalb eines Jahres zurückgezahlt werden. Gerade weil Corona uns alle betrifft, können wir uns wünschen, dass die Sozialpartnerschaft gestärkt aus der Krise hervor geht und dass wir uns als Gesellschaft merken und anerkennen, dass die systemrelevanten Berufe am schlechtesten bezahlt werden und die Menschen, die diese Berufe ausüben, häufig am meisten arbeiten; und dass Bildung und Ausbildung kein Luxus sind, sondern ein Recht sind. Deswegen muss unsere wichtigste Forderung sein: Auf keinen Fall darf Corona zur Ausrede werden, um neoliberale Argumente aufzuwärmen und politisch durchzusetzen. Wie zum Beispiel die Behauptung, Home-Office sei eine gute Möglichkeit zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie und würde zur Gleichberechtigung beitragen; oder die Forderung, den Solidaritätsbeitrag auch für die Reichen 3% abzuschaffen. Es darf jetzt keine Entlastung der Superreichen geben. Im Gegenteil, die finanzielle Belastung des Schutzschirms muss gerecht verteilt und von denen getragen werden, die am kapitalstärksten sind! Dafür braucht es starke Gewerkschaften und eine starke Sozialdemokratie!

Alle Forderungen des DGB zur Abfederung der Krise findet ihr unter: www.dgb.de bzw. www.dgb-jugend.de. Dort gibt es auch eine Sammlung von FAQs zu Arbeiten und Corona (https://jugend.dgb.de/meldungen/studium/++co++40e68ec6-6a8c-11ea-bae6-525400d8729f)

Ansprechpartner*in für junge Arbeitnehmer*innen, Auszubildende und Studis vor Ort ist das Jugendsekretariat München, das ihr unter jugendsekretariat-muenchen@dgb.de oder via Instagram bzw. Facebook erreicht. Außerdem hat die DGB Jugend Hochschulgruppe München eine Info-Channel auf Telegram eingerichtet (@hochschulgruppe), auf dem regelmäßig relevante Infos und Hinweise zu Veranstaltungen gepostet werden.