Bis heute prägt der Begriff „Kultur für Alle“ kulturpolitische Debatten. Im Kontext des gesellschaftlichen Wandels müssen kulturpolitische Konzepte und Modelle jedoch neu gedacht werden. Die Entwicklung eines Cultural Green Deals bietet die Möglichkeit an die erfolgreiche kulturpolitische Theoriebildung der Vergangenheit anzuknüpfen, diese jedoch auch neu zu denken.
Kulturpolitische Konzepte müssen für das 21. Jahrhundert neu interpretiert werden
In kulturpolitischen Wahlkampfreden ist es weit über alle Parteigrenzen hinweg üblich, den wolkigen Begriff „Kultur für Alle“ zu bemühen. Der Slogan geht auf die Arbeit des langjährigen Frankfurter Kulturdezernenten Hilmar Hoffmann (1925-2018) zurück. 1979 veröffentliche Hoffmann das bis heute – zumindest begrifflich – Ton angebende Werk „Kultur für Alle. Perspektiven und Modelle.“ Das Modell beinhaltet die Idee, dass sich der „Kulturstaat“ nur von der Basis aufbauen lässt. Aus diesem Grund müssen alle Bürger*innen unabhängig ihrer Herkunft, ihres Einkommens und ihrer individuellen Voraussetzungen in die Lage versetzt werden, am kulturellen Leben teilzuhaben. Heutzutage wird in diesem Zusammenhang auch von Teilhabegerechtigkeit gesprochen, da es um eine gerechte Nutzung von staatlich garantierten Leistungen in Kunst, Kultur und Bildung geht.
Seit der Veröffentlichung Hoffmanns paradigmatischen Werks ist viel Wasser die Isar heruntergeflossen. Deutlich unterscheidet sich unsere Gegenwart heute von der Bundesrepublik der 70er Jahre. Stärker als je zuvor prägen Globalisierung, Digitalisierung und die Klimakrise unsere Gesellschaft. Mit dem Wandel der Gesellschaft verändern sich auch notwendigerweise die Modelle politischer Steuerung.[1]
Individuelles Empowerment und „Mehr Demokratie wagen“ als zentrale Bausteine sozialdemokratischer Kulturpolitik
Die heute prominenten Konzepte der Kulturpolitik gehen auf eine Zeit zurück, die von unserer Gegenwart sehr verschieden ist. Neben dem Konzept „Kultur für Alle“ entstand z.B. auch der vom Nürnberger Kulturreferenten Hermann Glaser (1028-2018) geprägte Begriff der „Soziokultur“ in die Zeit nach der 68er Bewegung. Hier forderte Willy Brandt „Mehr Demokratie wagen“ und in allen Gesellschaftsbereichen wurden gesamtgesellschaftliche Demokratisierungs- und Innovationsprozesse angestoßen. Heute gilt es der kulturpolitischen Botschaft des individuellen Empowerments neue Kraft zu verleihen.[2] Ebenso muss die Kulturpolitik neue Bündnisse schmieden, um die Kulturpolitik als Querschnittsthema in der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Hierfür eignet sich die Verbindung kulturpolitischer Fragestellungen mit denen der öko-sozialen Gesellschaftstransformation.
In der heutigen Situation, in der sich die Kulturpolitik insbesondere durch die globale Corona-Pandemie vollkommen neu orientieren muss, gilt es zurückzublicken und aus der Geschichte zu lernen. Gleichzeitig müssen aber auch die Weichen für neue kulturpolitische Konzepte und Begründungen gestellt werden. Hier bietet das Konzept eines Cultural Green Deal die Chance vereinzelte Bestrebungen zur Neuausrichtung kulturpolitischen Handelns unter das vereinende Dach einer aussagekräftigen Idee zu stellen. So kann es gelingen, die gesellschaftliche Relevanz der Kulturpolitik zu reformulieren und einen erneuten demokratischen Gestaltungsprozess in Gang zu setzen.
In der Corona-Pandemie werden die Karten neu gemischt: Mit Mut, Gestaltungswillen und Zuversicht überwinden wir die Krise
Während das öffentliche Leben in der Corona-Pandemie weitestgehend still steht, mehren sich die Anzeichen einer Beschleunigung gesellschaftlicher Debatten. In was für einer Gesellschaft wollen wir nach der globalen Ausnahmesituation leben? Welchen Stellenwert besitzt die öffentliche Daseinsfürsorge? Inwieweit überlassen wir gesellschaftlichen Teilbereiche wie zum Beispiel den Gesundheitssektor den „Freien Kräften des Marktes“? In der Corona-Pandemie werden die Karten neu gemischt.
Für die Kulturpolitik ergibt sich die Chance mit einem neuen Selbstbewusstsein aus der Krise zu kommen und die notwendige Neu-Interpretation und Ausgestaltung ihrer erfolgreichen Konzepte voranzutreiben. Dabei stehen Kulturpolitiker*innen vor der doppelten Herausforderung, die unmittelbaren Folgen der Krise einerseits abzufedern, anderseits zentrale Zukunftsfragen nicht aus dem Blick zu verlieren.
Einem Cultural Green Deal gelingt Beides: In Anlehnung an das Kulturprogramm des historischen New Deals können in seinem Rahmen Förderprogramme für notleidende Kulturschaffende und Solo-Selbstständige aufgelegt werden. Es können aber auch Kulturorganisationen und die Infrastruktur der Kultur- und Kreativwirtschaft über die Krise gerettet und weiterentwickelt werden. Der Cultural Green Deal weist in die Zukunft und unterstreicht die Bedeutung der Themen Nachhaltigkeit und Demokratie.
Das Kulturprogramm des historischen Roosevelt New Deals
Ein Cultural Green Deal kann sich an historischen Vorbildern orientieren ohne diese kopieren zu müssen. Anfang der 1930er Jahre reagierte der demokratische US-Präsident Roosevelt mit dem sog. New Deal auf die verheerenden Auswirkungen der Weltfinanzkrise. Was heute wenige bekannt ist, ist die Tatsache, dass der New Deal auch von einer Serie von kulturpolitischen Fördermaßnahmen verbunden war, um arbeitslosen Künstler*innen die Möglichkeit zur Ausübung ihres Berufs zu geben. Im Zuge der Corona-Pandemie beziehen sich der Kurator Hans Ulrich Obrist sowie der Kunstkritiker Kolja Reichert in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur Idee eines New Deals für die Kunst.[3]
Im historischen New Deal wurden zwischen 1935 und 1943 im sog. „The Works Progress Administration Federal Art Project“ (WPA/FAP) hunderte Künstler*innen beschäftigt. Die amerikanische Kunsthistorikerin Jilian Russo erläuterte 2018, dass die Künstlerförderung im Rahmen des New Deals den Grundstein für die Kunstrichtung es Abstrakten Expressionismus aber auch des durchschlagenden Erfolgs des amerikanischen Kunstmarkts nach Ende des zweiten Weltkriegs gelegt hat.[4] Auf Grundlage aktueller Forschungsperspektiven kann also argumentiert werden, das heute die Grundlagen für künstlerischen Erfolg in 10 oder 20 Jahren gelegt wird. Diese Zukunftsperspektive ist entscheidender Bestandteil des Cultural Green Deals.
In den 30er Jahren wurden in den USA wirkmächtige Verwaltungsstrukturen und Förderprogramme für Bildende Kunst, Theater, Fotografie, Literatur und Musik aufgelegt. Es entstanden tausende Wandgemälde und Statuen in der gesamten USA. Schriftsteller bereisten auf der Suche nach Geschichten das Land. So entstanden dutzende Reiseführer, die das gesamte 20. Jahrhundert als Sammlerstücke galten und von USA-Reisenden regelrecht geliebt wurden. Diese öffentlich geförderte Kunstproduktion prägt rückblickend unser Bild der großen Weltwirtschaftskrise in den USA. So zählen beispielsweise die Bilder des Fotographen Walker Evans zu den eindrücklichsten Zeugnissen dieser Zeit, die heute noch in Ausstellungen auf der ganzen Welt gezeigt werden.
Das Kulturprogramm des New Deal war gleichzeitig eine massive Infrastrukturreform. Im Rahmen von Investitionen entstanden im gesamten Land Kulturzentren, in den Bürger*innen nicht unähnlich zum Konzept „Kultur für Alle“ Kultur und Bildungsangebote wahrnehmen oder selber künstlerisch tätig werden konnten. An diesen konkreten Projekten könnte sich die heutige Verwaltung und Kulturpolitik orientieren.
Wie könnte ein New Deal heute ausbuchstabiert werden?
Der historische Rückblick ist eine Quelle der Inspiration. Hier einige Idee welche Bestandteile ein Cultural Green Deal beinhalten könnte:
- Über Arbeitsstipendien und öffentliche Aufträge lassen sich ein an den historischen New Deal anschließender Cultural New Deal realisieren.
- Im Kontext von Artistic Research-Programmen werden die gesellschaftliche Spaltung und die Auswirkungen des Klimawandels erforscht.
- Dokumentarfilmer und Fotografen dokumentieren Monokultur, intensive Landwirtschaft, Massentierhaltung und Gletscherschmelze künstlerisch anspruchsvoll und technisch auf höchstem Niveau für die Nachwelt.
- Künstler*innen werden für Photoshop- oder Video-Art-Kurse an Schulen beschäftigt– aus der Bezahlung finanzieren sie ihre künstlerische Arbeit.
- Die öffentliche Hand gibt Kunstwerke in Auftrag geben, die das historische Projekt der öko-sozialen Transformation im Kontext des European Green Deal für staatliche Kunstsammlungen sowie den öffentlichen Raum aufbereiten.
- Dabei wird öffentlicher Raum auch digital verstanden, sodass z.B. auch an die künstlerische Gestaltung von Flächen auf Homepages zu denken ist.
- Entwicklung von Zero-Waste Guidelines für Festivals, Kulturveranstaltungen und Kulturorganisationen
- …
Diese Ideen sind weder abschließend noch verstehen sie sich als staatlich orchestrierter Eingriff in die Kunstfreiheit! Das Ziel eines Cultural Green Deal ist die kulturelle Unterfütterung einer Jahrhundertaufgabe. Es geht darum, den Erfolg des auf europäischer Ebene angestoßenen European Green Deal zu gewährleisten und über den Wirtschafts- und Energiebereich hinaus mit Leben zu füllen. Wie im historischen Roosevelt New Deal könnte ein Schwerpunkt von kultureller Infrastrukturförderung in den öffentlichen Kultur- und Bildungseinrichtungen wie zum Beispiel Stadtbibliotheken liegen, die zu den so wichtigen „Dritten Orten“ zählen.
Der Cultural Green Deal als überzeugendes kulturpolitisches Narrativ und politisches Querschnittsthema
Wie der Fall der Berliner Mauer oder die Insolvenz der amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers sind wir aktuell mit einem Ereignis von historischem Ausmaß konfrontiert, dessen Folgen noch nicht abzuschätzen sind. Mehr denn je sind die Ressourcen Kreativität und Fantasie gefragt, mehr denn je braucht es eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung um eine der größten Herausforderungen seit Gründung der Bundesrepublik zu stemmen. Eine Möglichkeit, genau diese Potentiale von Kunst und Kultur zu mobilisieren, liegt in der Entwicklung eines neuen und überzeugenden kulturpolitischen Narrativs. Die Debatten um die Sofort-Hilfe-Programme für Kulturschaffende und Solo-Selbstständige, aber auch das vom Deutschen Kulturreferat geforderte Kulturinfrastrukturprogramm zeigen deutlich, dass Kulturpolitik viel zu oft noch sehr technisch gedacht ist. In der Szene führt dies zu erheblichen Frustpotential und einer Entfremdung derjenigen Bürger*innen, die durch kulturpolitische (Hilfs-)Maßnahmen erreicht werden sollen. In der Berichterstattung wird Kulturpolitik als zaghaft und einflusslos beschrieben.
In der Krise zeigt sich, dass kulturpolitische Einzelmaßnahmen wie z.B. die Förderung der Freien Szene, die weitere Öffnung der Stadtbibliotheken oder die Modernisierung kultureller Infrastruktur alleine nicht die normativ-ideelle Ebene der institutionellen Rahmenbedingungen und noch weniger die emotionale Ebene der entscheidenden Anspruchsgruppen und Akteure ansprechen können. Diese sowohl ideelle als auch emotionale Ansprache scheint zur Überwindung der Krise aber gerade notwendig, um den Herausforderungen der Corona-Pandemie zu begegnen. Der Cultural Green Deal kann genau diese strategische Leerstelle füllen und einen Prozess initiieren, der alle wichtigen Anspruchsgruppen von der Politik, über die Verbände und Kulturorganisationen bis zu den freien Künstler*innen zusammenbringt. Die oben genannte Liste von möglichen Förderprogrammen etc. ist dabei nur ein erster Aufschlag und kann partizipativ und basisdemokratisch weiterentwickelt werden.
Der Cultural Green Deal erneuert das mit der Sozialdemokratie verbündende Fortschrittsversprechen
Als Reaktion auf die Corona-Pandemie und vor dem Hintergrund leicht angestaubter kulturpolitischer Begründungsstrategien ist es eine zentrale Herausforderung der Kulturpolitik, die Herzen und Köpfe der Menschen zu erreichen. Das „Warum“ der Förderung von Kunst und Kultur muss in und nach der Pandemie überzeugend definiert und kommuniziert werden. Dabei besteht die Möglichkeit im Kontext des Cultural Green Deal an den Konzepten „Kultur für Alle“, „Soziokultur“ und „Kulturelle Bildung“ festzuhalten, diese aber vor dem Hintergrund gesellschaftlichen Wandels und der notwendigen sozio-ökologischen Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft in einer großen Kraftanstrengung für eine kommende, gerechtere und lebenswertere Zukunft zu re-konzipieren. Schon vor der Corona-Krise hat die Aktualisierung ehemals wirkmächtiger kulturpolitischer Paradigmen Not getan.
Die Sozialdemokratie ist eine gesellschaftspolitische Idee, die mit einem Fortschrittsversprechen verbunden ist. Für die Kulturpolitik bedeutet dies, sich an den Anfängen der sozialdemokratischen Bewegung zu erinnern und politisches Handeln so umzusetzen, dass auch heute das individuelle Aufstiegsversprechen sowie die bestmögliche Herausbildung der eigenen Fähigkeiten im Vordergrund steht. Gerade in Abgrenzung zu Modellen der wirtschaftlichen Nutzbarmachung eben jener persönlichen Ressourcen Kreativität und Fantasie muss die gemeinwohlorientierte Dimension kultureller Bildung gestärkt und kulturellen, bildungstechnischen und ökonomischen Ungleichheiten entgegengewirkt werden, die durch radikale Marktlogiken verstärkt werden. Ebenso wird die für das 21. Jahrhunderte zentrale Abkehr von fossilen Energieträgern zentral gesetzt und nach Möglichkeiten des Kulturbetriebs gesucht. Im Kontext des Cultural Green Deal sollen mehr Bürger*innen kulturelle Angebote wahrnehmen und das Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für all jene Bürger*innen aktualisiert werden, die zu den Verlierer*innen des aktuellen Wirtschaftssystems zählen.
Der Cultural Green Deal als kulturpolitischer Beteiligungsprozess
Es geht in der aktuellen Situation darum, einen in die Zukunft gerichteten Prozess zu starten, der glaubhaft das Bild einer Fortschrittsbewegung verkörpert. Ideen zur Ausgestaltung eines Cultural Green Deal können ausgehend von der Sozialdemokratie Impulse zu offenen und anwendungsbezogenen Themenwerkstätten und Policy-Labs setzen, in denen gemeinsam auf Grundlage internationaler Entwicklungen, ortsspezifischer Anforderungen sowie veränderten Bedürfnissen der Nutzer*innen/Besucher*innen konkrete Inhalte eines Cultural Green Deals erarbeitet werden.
Ein solches auf Beteiligung ausgelegtes Politikformat hat die Möglichkeit verlorengegangenes Vertrauen neu aufzubauen und die Legitimation öffentlicher Entscheidungen zu stärken. Ebenso können zielgenaue Strategien zum Ressourcenschonenden Umgang, zur bedarfsgerechten und energetischen Sanierung, zur Einbindung kreativer Potentiale von Bürger*innen und zur Neubegründung institutioneller Rahmen gesetzt werden. Diese Institutionen sind die einem Handeln oder einer Organisation zu Grunde liegenden Normen und Werte, die im Kontext eines Cultural Green Deals vitalisiert und gestärkt werden. Dies ist natürlich mit Institutionen verbunden, sodass es auf politischer Ebene die Anstrengung benötigt, die Herausforderungen von Kunst, Kultur und Kreativwirtschaft an den entscheidenden Stellen und sich in Arbeit befindender Konjunkturprogramme vorzutragen.
Investitionen zur Bekämpfung der Klima-Krise und der Corona-Depression
Der Internationale Währungsfonds befürchtet den größten ökonomischen Einbruch seit der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre. Die Bundesregierung erwartet ein Einbruch des BIP in Höhe von 6%. Vor dem Hintergrund dieser Zahlen wird derzeit auf verschiedenen Ebenen über Konjunkturprogramme zur Überwindung des zu erwartenden Wirtschaftseinbruchs diskutiert. Ende Mai 2020 wurde zum Beispiel ein Forschungspapier im Auftrag des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit unter dem Titel „Sozial-ökologisch ausgerichtete Konjunkturpolitik in und nach der Corona-Krise“ veröffentlicht.[5] Die Studie geht davon aus, dass sowohl die Corona-Krise als auch die Klimakrise unsere Gesellschaft vor entscheidende Herausforderungen stellen. Gleichzeitig wird die Überzeugung vertreten, dass die Bekämpfung der beiden Krisen gemeinsam angegangen werden muss. Hierfür sind planvolle und gestaltende staatliche Eingriffe und Rahmensetzungen notwendig.
In der öffentlichen Debatte zum Klimawandel ist immer wieder die Rede von einem Green New Deal. Dieser wird in den USA beispielsweise prominent von dem demokratischen Präsidentschaftskandidaten Bernie Sanders vorangetrieben. Auf europäischer Ebene ist der sozialdemokratische Vizepräsident der EU-Kommission Frans Timmermans mit der Umsetzung eines European Green Deal betraut. Während Investitionen in Erlernbare Energien oder energetische Gebäudesanierung klimapolitisch nicht erklärungsbedürftig sind, verwundert die Verbindung von Klima- und Kulturpolitik auf den ersten Blick. Denn Kunst und Kultur leben von ihrer gesellschaftlich garantierten Freiheit. Sie müssen sich keinem Zweck unterordnen.
Dennoch lohnt es sich zu Fragen, ob nicht gerade für die kulturpolitische Programmatik der Sozialdemokratie eine große Chance darin liegt, sich in der Ausbuchstabierung eines Cultural Green Deal neu zu erfinden. Diese Frage kann nicht leicht beantwortet werden und Lösungen werden in Zukunft in einer gemeinsamen Kraftanstrengung zu suchen sein.
Der European Green Deal als Motor der sozio-ökologischen Transformation
So erschreckend der historische Vergleich mit der Weltwirtschaftskrise aktuell scheint, hält er auch den Schlüssel zur Lösung unserer Probleme bereit. Europa braucht in diesen Tagen einen Green New Deal. Dieser lehnt sich an die als New Deal bezeichnete Serie von Wirtschafts- und Sozialreformen des US-Präsident Roosevelt in den 1930er Jahren an. Auch heute muss der unmittelbaren Bedrohung durch den Klimawandel mit einer ökologischen Wende der Industriegesellschaft und einem tiefgreifenden kulturellen Wandel begegnet werden.
Dem Klimawandel muss mit einer Neuausrichtung politischen und wirtschaftlichen Handelns über den Horizont einzelner Legislaturperioden begegnet werden. Auf europäischer Ebene wird derzeit unter Federführung des sozialdemokratischen Vizepräsidenten der EU-Kommission Frans Timmermans an der Ausgestaltung eines European Green Deal gearbeitet. In den USA und Großbritannien wird unter dem Stichwort Green New Deal ebenfalls für die sozial-ökologische Transformation der Gesellschaft geworben.
Was aber ist ein European Green Deal? Er soll erstens dazu dienen, das auf der Pariser Klimakonferenz 2015 festgelegte 1,5 Grad-Ziel zu erreichen. Zweitens soll der der gesellschaftlichen Ungleichheit entgegenwirkt und Wohlstand und Arbeit gesichert werden. In Hinblick auf die Bekämpfung der Corona-Krise bietet der European Grean Deal einen Rahmen für Konjunkturprogramme, Institutionen und Fördermaßnahmen. Beispielhaft beinhaltet der European Green Deal:
- Ausbau des ÖPNV
- energetischen Gebäudesanierung
- Ausbau Erneuerbarer Energien
- Ausbau von Ländern überschreitender Verkehrsinfrastrukturprojekten
- Regulierung zur verstärkten Wiederverwendbarkeit von Produkten und Produktteilen
- Förderung von Kreislaufwirtschaft
- Sparsamer Umgang mit Ressourcen und Vermeidung von Abfall
- Förderung von regenerativen Verfahren in der Landwirtschaft und Biodiversität
Der Green New Deal nicht nur eine gesamtgesellschaftliche Anstrengung zur Bekämpfung des Klimawandels, er führt auch zu mehr Lebensqualität. Wenn es gelingt, den Green New Deal mit einer anspruchsvollen kulturpolitischen Agenda zu versehen, kann die wirtschaftliche Wiederbelebung in der Post-Corona-Zeit zu mehr Selbstbestimmung und einer Aktualisierung angestaubter kulturpolitischer Legitimationsstrategien führen.
Kulturpolitische Entscheidungen heute können deswegen den Grundstein für eine gerechtere Welt legen, in der in Zukunft mehr Menschen Zugang zu Kunst und Kultur haben, die Dominanz der Logik der bezifferten Welt gebrochen ist und die universalistische Mehrdimensionalität des Menschen im Zentrum gesellschaftlichen Fortschritts steht.
Ein Gastbeitrag von Christian Steinau
An der Programmatik eines Cultural Green Deals oder Cultural New Deals wird im Kulturforum der Sozialdemokratie in München e.V. gearbeitet. www.kulturforum-muenchen.de
Bei Interesse an einer Mitarbeit zu dem Thema des Cultural Green Deals oder an kulturpolitischen Fragen freue ich mich über eine Nachricht: christian.steinau@kulturforum-muenchen.de
[1] In der Grün-Roten Koalitionsvereinbarung für die Stadtratsperiode 2020-2026 fällt im Kulturteil das Wort „weiterentwickeln“ sechs Mal. Aber auch überregional wird verstärkt nach neuen kulturpolitischen Visionen und Leitbildern gefahndet. An einen Essay Wettbewerb der Kulturpolitischen Gesellschaft (KuPoGe) zu den kulturpolitischen Konsequenzen der Corona-Krise haben bis heute dutzende Kulturpolitiker*innen und Beobachter*innen des Kulturbetriebs teilgenommen. Die Corona-Essays finden sich unter diesem Link: https://kupoge.de/essays-zur-corona-krise/, zuletzt aufgerufen a, 26. Mai 2020.
[2] Siehe den Text zum Erklärbar J
[3] Hans Ulrich Obrist, „Ein neuer New Deal für die gesellschaftliche Erfindungskraft“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/hans-ulrich-obrist-ein-neuer-new-deal-fuer-die-kuenste-16741983.html?printPagedArticle=true&fbclid=IwAR0WmwOg_1TJQPxAd41wFMMaX4uruCi4y0ihOUq_PSQoMNRLfpCgrSnOVlg#pageIndex_2, zuletzt aufgerufen am 25. Mai 2020; Kolja Reichert: „Wie könnte ein New Deal für die Kunst aussehen?“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30. April 2020, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kunst/so-koennte-ein-new-deal-fuer-die-kunst-aussehen-16741975.html, zuletzt aufgerufen am 25. Mai 2020.
[4] Siehe Jilian Russo, The Works Progress Administration Federal Art Project Reconsidered, in: Visual Resources, Bd. 34 (2018), H. 1-2, Special Issue – Art in Age of Financial Crisis, S. 13-32.
[5] https://www.bmu.de/download/sozial-oekologisch-ausgerichtete-konjunkturpolitik-in-und-nach-der-corona-krise/, zuletzt aufgerufen am 25. Mai 2020.