Brexit, the [Noun]
Definition: Brexit means Brexit (means Brexit)
Als wir beginnen, diesen Text zu schreiben, sind es noch 28 Stunden bis zum Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Der Brexit hat uns wie alle hier im UK und in der EU seit drei Jahren auf Trab gehalten. Er hat das politische System des UK auf den Kopf gestellt, die EU für drei Jahre fast lahmgelegt und das Friedensprojekt auf der irischen Insel erneut in Frage gestellt. Aber was bedeutet er für die Menschen, die hier leben?
Im SPD Freundeskreis London haben wir natürlich unsere eigenen Vorstellungen vom Brexit und der EU – unsere Gruppe setzt sich vor allem aus Studierenden, Wissenschaftler*innen und Beschäftigten in Ministerien und der Londoner Finanzwelt zusammen. Über unsere inzwischen zahlreichen Kontakte zu englischen und irischen Freund*innen sowie zu den Genoss*innen unserer europäischen Schwesterparteien in London haben wir aber auch zahlreiche Eindrücke von Leuten erhalten, die nicht einfach zurück nach Deutschland können, wenn es ihnen politisch zu bunt wird.
Zum einen gibt es die engagierten Europäer*innen in der Labour-Partei, die sich seit Jahrzehnten für unser europäisches Projekt eingesetzt haben. Als offizielles Bindeglied der SPD zur Labour-Partei haben wir viel mit ihnen gesprochen und sie in den vergangenen Wahlkämpfen unterstützt. Es war schmerzlich, mitanzusehen, wie sich die Labour-Partei zuerst durch die Spaltung in der Brexit-Frage um die Macht gebracht hat. Während die Pro-Europäer sich schwer taten, die Bevölkerung von ihrer Haltung zu überzeugen, schwieg die Parteiführung um pro-Brexit Jeremy Corbyn und schoss die Labour-Partei ins Abseits. Gerade die Labour-Europaabgeordneten, wie zum Beispiel der von uns hochgeschätzte Seb Dance, haben nun unter den fatalen Fehlentscheidungen zu leiden. Sie müssen Brüssel im Jubel der Brexiteers verlassen. Für sie, ihre Londoner Kolleg*innen und uns war es ein herzzerreißender Prozess, die Niederlage anzuerkennen und jetzt neue Strategien für eine pro-europäische linke Politik nach dem Brexit zu entwickeln.
Noch schwerer hat es unsere Freund*innen der Labour Irish Society getroffen. Die Labour Irish Society ist eine Gruppierung innerhalb der Labour-Partei, deren Mitglieder nordirischer oder irischer Herkunft sind – sie steht somit auch für den erfolgreichen Friedensprozess in Nordirland. Dieser ist nun durch den Brexit in großer Gefahr. Denn es ist nach wie vor keine Lösung gefunden, wie Großbritannien aus dem EU-Binnenmarkt austreten und gleichzeitig die irische Grenze offenbleiben kann. Das für den Frieden so wichtige Good-Friday Agreement spielt in der öffentlichen Diskussion weiterhin kaum eine Rolle. Die Vorschläge der Konservativen wie neuartige Technologielösungen oder EU-Zollkontrollen zwischen Irland und Nordirland erscheinen fast unrealistischer als die irische Wiedervereinigung. Deshalb fällt uns hier besonders auf, dass die Einzelschicksale der Menschen in Nordirland wichtiger sind als alle anderen technischen Details des Brexits. In der britischen Hauptstadt, die grundlegend anders ist als viele Orte im Rest des Landes, wird oft vergessen, dass der Frieden auf der irischen Insel äußerst fragil ist und dass eine Grenzschließung höchstwahrscheinlich zu neuer Gewalt führen würde.
Hoffnung macht uns allerdings, dass der Brexit ein neues europäisches Gemeinschaftsgefühl in London geweckt hat. Ein tolles Beispiel hierfür ist unsere Zusammenarbeit mit den europäischen Schwesterparteien. Mit den Genoss*innen aus Italien, Spanien, Portugal, Frankreich, den Niederlanden und Bulgarien haben wir im vergangenen Jahr eine Citygroup der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE/PES) gegründet. Diese Gruppe ist eine exzellente Struktur, um unsere britischen Genoss*innen im Europawahlkampf zu unterstützen und gleichzeitig bei Anti-Brexit-Demos und bei unserer legendären Halloween/No-Brexit-Day Party internationalen Spaß zu haben. Gemeinsam mit unseren europäischen Schwesterparteien werden wir in Zukunft auch außerhalb der EU den sozialdemokratischen Auftrag und die internationale Solidarität in London weiterhin vorantreiben.
Aus unserer Sicht muss der Brexit ein Weckruf für ganz Europa sein. Vor drei Jahren wähnten sich die konservativen (pro-europäischen) Entscheidungsträger um Premierminister David Cameron sicher und vergaßen, die europäischen Werte offen zu verteidigen. Jetzt, im Januar 2020, ist der Rechtspopulismus in der Mitte der Gesellschaft angekommen und hat eine Schneise der Verwüstung hinterlassen. In der Downing Street sitzt ein Lügner á la Trump, der mehrfach den illegalen Versuch unternommen hat, das Parlament zu entmachten, und obendrein seine Partei erst jüngst von Andersdenkenden befreit hat. Diesen rechtspopulistischen Kräften kann nur eine sozialistische Alternative entgegenwirken, die den Menschen eine klare Vision von einer gerechten, ökologischeren und vor allem demokratischeren Zukunft bietet.
Die Menschen in diesem Land sind durch Propaganda und Angstschürerei in den Brexit gedrängt worden. Nun steht das Land wie schon so oft am Scheideweg: Es könnte sein, dass die vermutlich bevorstehende Verschlechterung der Lebensverhältnisse zurückgeführt wird auf die Politik der derzeitigen Johnson-Regierung. Es erscheint derzeit aber plausibler, dass die Brexiteers mit ihrem Spiel aus Realitätsverschleierung und Denunziation der Pragmatiker weiter Erfolg haben werden. Es ist für viele zu schön, ihren einfachen Antworten Glauben zu schenken. Das muss von der demokratischen Opposition verhindert werden. Und hierfür braucht es die internationale Solidarität mehr denn je. Erst recht gegenüber unseren britischen Freund*innen, die wir in den schweren bevorstehenden Jahren unterstützen müssen und werden, wo immer wir können.