Über die Kritik an der Demokratie

Na gut, dann ist es jetzt im Schatten der desaströsen Europawahlen meine Aufgabe, hier eine Kritik an der Demokratie zu verfassen. Es wäre jetzt sehr angenehm eine Wähler*innenschelte zu verfassen und darüber zu wüten, dass die Leute den Grünen und den Faschist*innen nachlaufen. Die Demokratie war in den letzten Jahren immerhin alles andere als lieb zur SPD. Aber um ehrlich zu sein, das bringt nichts und führt auf uns zu keinem Erkenntnisgewinn.

Und das will ich vorab auch erklären: Im Grunde ist die Vorstellung, dass der Demos in einer Demokratie von Demagog*innen dazu verführt werden könnte falsche und gefährliche Entscheidungen mitzutragen, schon seit der griechischen Antike bekannt. Damals ließen sich Athener, das heißt die Abstimmungsberechtigten Männer Athens, auf die desaströse Sizilienexpedition ein. Heute stimmen die Brit*innen für den Brexit und die US-Amerikaner*innen für Trump. Das führt viele Leute dazu sich zu beklagen über ungebildete, naive Wähler*innen aus den vermeintlich untersten Schichten, die falsch abstimmen.

Das führt manche dazu über mit einem Wahlführerschein zu liebäugeln, bei dem Menschen einen Test bestehen müssen bevor sie das Wahlrecht bekommen. Leider lassen sich auch manche Linksintellektuelle zu solchen Fantasien hinreißen. Es wäre aber ein extrem gefährliches Instrument, denn Politik wird für die Wähler*innen gemacht und Menschen das Wahlrecht zu entziehen heißt, dass auch keine Politik mehr für sie gemacht wird. Womit diese Menschen weiter benachteiligt und sogar entrechtet werden.

Wir brauchen dafür auch gar keine Gedankenexperimente anstellen, denn so etwas wie einen Wahlführerschein gibt es bereits. Der Wahlführerschein heißt in Deutschland Reisepass, bzw. Staatsbürgerschaft. Der Ausschluss von Ausländer*innen bei den Wahlen führt dazu, dass diese sich ihre politische Vertretung allzu oft über das Ausland organisieren müssen. Die Tatsache, dass in den Städten mehr Menschen ohne deutschen Pass leben, führt außerdem zu einem Vorteil für die ländlichen Regionen, was konservative Parteien stärkt und wiederum zu einer Benachteiligung der in den Städten lebenden Menschen ohne Pass führt.

Eine Einschränkung des Wahlrechts ist niemals progressiv. Die Vorstellung, dass es arme oder ungebildete Menschen sind, die besonders anfällig sind für Populismus, ist durchaus nicht so realistisch wie viele es glauben. Aber würde uns hier zu weit vom eigentlichen Thema wegführen, deswegen sei kurz gesagt: „Ja, Menschen für die das System versagt, haben einen größeren Anreiz, ihre Vertretung außerhalb des Systems zu wählen. Offensichtlich!“

Trotzdem kann das Prinzip One-Person-One-Vote auch seine Tücken haben. Aus zwei Gründen:

Erstens: Eine Mehrheitsdiktatur ist keine Demokratie

Zweitens: Zur Demokratie gehört mehr als nur ein Stimmrecht

Zum ersten. Es gibt einfach in einer Gesellschaft Menschen denen unterschiedliche Themen unterschiedlich wichtig sein können. Was für die Mehrheit egal bis OK sein kann, kann für eine Minderheit absolut zerstörerisch wirken. Der Postillion hat das sehr schön in einer Schlagzeile formuliert die lautet: „Umfrage: Neun von zehn Büroangestellten finden Mobbing völlig in Ordnung

Deswegen kann eine funktionierende Demokratie niemals ein reiner Mehrheitsentscheid sein, sondern braucht immer Minderheitenschutz und -repräsentation. Das kann sogar bedeuten, dass manche Personen schlicht von Abstimmungen ausgeschlossen werden, die sie nichts angehen. Wie etwa Menschen über 35 bei der Wahl eines Juso Vorstandes. Oder Menschen die in Gladbach wohnen, bei der Münchner Kommunalwahl. Oder, wenn wir ganz, ganz nach unten gehen in den Strukturen unserer Gesellschaft, dann wird selbst die Familie ausgeschlossen, bei der Eheentscheidung zweier mehr oder weniger verliebter Personen.

Der repräsentativ gewählte Bundestag, soll zwar eine Vertretung aller Menschen sein (,die über 18 sind und einen deutschen Pass besitzen,) Aber er darf sich nicht in jede Entscheidung einmischen. Die Bundesländer haben ihre eigenen Rechte, die Kommunen ebenfalls und die Individuen sowieso.

Individuen haben aber auch das Recht – und damit kommen wir zum zweiten Punkt von vorhin – sich zu organisieren. In einer Partei, einer Gewerkschaft, einem Verein oder ganz lose in WhatsApp-Gruppen. Die Freiheit der Menschen, sich jenseits des Staates politisch zu organisieren ist ein Fundament der Demokratie, das mindestens so bedeutend ist wie das Wahlrecht. Das aber allzu oft vergessen wird, wenn die Leute über Volksabstimmungen und Lobbyismus diskutieren.

Wenn es einer Partei gelingt sämtliche politische Institutionen jenseits des Staates für sich zu monopolisieren, wie zum Beispiel im modernen China, ist es letztlich irrelevant wie demokratisch, frei und anonym die Wahlen stattfinden, weil es schlicht keine Option neben der von der Regierung vorgeschlagenen gibt.

Nur am Rande: Das Fehlen von älteren etablierten demokratischen Strukturen ist im Übrigen auch einer der Gründe, warum es so schwer ist, Demokratien neu zu gestalten oder mit Gewalt aus dem Boden zu stampfen. In Deutschland waren Parteien, Gewerkschaften und Vereine schon vor dem ersten Weltkrieg gegründet und konnten trotz des fürchterlichen historischen Einschnittes unter dem Naziregime neu gegründet werden. Das war eine der wichtigsten Grundlagen für das Funktionieren der parlamentarischen Demokratie nach dem Zweiten Weltkrieg.

Jetzt nachdem wir all das gesagt haben, wollen wir uns nun endlich der Kritik an der Demokratie zuwenden. Zumindest an der die wir heute in der BRD und EU haben (mit einigen bösen Fingerzeigen in die USA).

Etwas worüber sich sehr viele intuitiv beschweren, ist das repräsentative System. Wir stimmen ja nicht direkt über Gesetze ab und über die Umsetzung der Gesetze durch die Regierung sowieso nicht. Zwar werden dafür Abgeordnete als Vertretung der Leute in den Bundestag entsandt, aber viele Menschen misstrauen ihren Vertreter*innen.

Dieses Misstrauen ist kein Fehler im System, sondern eine notwendige Grundlage dafür. Die Bundestagsabgeordneten werden bezahlt, dafür, dass sie sich die Zeit nehmen sich über Gesetze zu informieren und im Sinne ihrer Wähler*innen darüber abzustimmen. Im Gegenzug müssen sie sich vor den Wähler*innen dafür verantworten, wie sie abgestimmt haben und sollten nötigenfalls abgewählt werden.

Tatsächlich ist es aber in Deutschland schwierig einzelne Abgeordnete direkt abzuwählen, da viele über eine Parteienliste in den Bundestag einziehen. Deswegen gilt aber auch der oft gescholtene Fraktionszwang. Weil davon ausgegangen wird, dass die Leute, die über die Liste gewählt wurden, nicht wegen ihrer Persönlichkeit, sondern wegen des Programms gewählt wurden und dementsprechend verpflichtet sind dieses Programm umzusetzen. Der Fraktionszwang steht nicht im Grundgesetz, ist aber eine logische Folge des Listenwahlrechts. Dennoch gilt: Eine Partei die ihr Programm nicht umsetzt (zum Beispiel, weil sie in einer dauerhaften Koalition mit ihrem politischen Gegner ist) sollte auf Dauer Wähler*innen verlieren.

Tatsächlich muss man enorm aufpassen, das berechtige Misstrauen gegen die Abgeordneten nicht antidemokratisch umzumünzen, gerade dann wenn das Misstrauen gegen einzelne Abgeordnete und Parteien umgemünzt wird in ein Misstrauen gegen den Parlamentarismus selbst. Das führt ironischerweise dazu, dass einzelne Politiker*innen und Parteien ihre eigenen Verfehlungen auf das vermeintliche System abwälzen können. Gerade die rechtsradikalen Parteien in Europa und den USA haben daraus eine Tugend gemacht. Sich über eine angebliche korrupte Elite im Parlament und den Medien zu beschweren, um von eigenen Korruptionsskandalen abzulenken, ist schon seit langem ein Standardmanöver der AfD, FPÖ, der US-Republikaner und vieler anderer.

Das heißt aber bei weitem nicht, dass alles rosig ist, in der Demokratie wie sie in Deutschland und der EU vorhanden ist. Im Gegenteil, wenn alles rosig wäre, dann wäre diese Demokratie gerade nicht erheblichen Angriffen von rechts ausgesetzt. Ja, das parlamentarische System in Deutschland hat versagt und das über Jahrzehnte zusammengeschusterte Repräsentativsystem der EU ebenfalls.

Das liegt an dem jahrzehntelangen ideologischen Zentrismus, der den Parteien vorgaukelt, sie müssten sich um eine gesellschaftliche Mitte kümmern, die es nicht wirklich gibt. (Auch das ist leider ein Thema für einen anderen Artikel, der hier ist schon lang genug.)

Es liegt auch, insbesondere in den EU Gremien, an einer Ideologie von Steuersenkungen und Haushaltskürzungen, die die Handlungsfähigkeit der Parlamente härter einschränkt als es eine Verfassung tut und uns seit Jahrzehnten zu einer Politik der kleinsten Schritte zwingt.

Es liegt auch an der konfus gewachsenen Gremienstruktur der EU, die zu ununterbrochenen Blockaden führt und es schwierig macht, die sozialen und ökologischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts anzugehen.

Aber es liegt auch und nicht zuletzt an Lobbyismus.

Ja, viele erschaudern schon alleine, wenn sie das Wort hören. „Lobbyismus, BRRRRR!“ Grundsätzlich ist Lobbyismus aber nicht das böseste das es gibt. Die Idee Politiker*innen in der Hotellobby aufzulauern um ihnen eine Petition oder einen Gesetzesvorschlag in die Hand zu drücken, wäre heute wohl eine schwierige Invasion der Privatsphäre der besagten Politiker*innen und wird deswegen eher über verabredete Gespräche gemacht.

Grundsätzlich sollte es aber zu den Selbstverständlichkeiten einer Demokratie gehören, dass Menschen mit einem bestimmten Interesse sich mit Politiker*innen treffen können.

Es gibt aber eine unglaubliche Unverhältnismäßigkeit zwischen den einzelnen Lobbyorganisationen. Und damit sei der Bogen zurück gespannt zum Recht auf freie Organisation jenseits des Staates.

Es ist für ehrenamtliche Vereine ohne große Finanzierung im Rücken sehr viel schwieriger, Vertreter*innen zu den Abgeordnetenbüros in Brüssel und Berlin zu schicken. Allein die Reisekosten sind erheblich. Dazu kommt, dass die*der jeweilige Lobbyist*in, so wie die Abgeordneten auch, ein Einkommen braucht. Idealerweise auch noch Mitarbeiter*innen die die Treffen organisieren, Gesetzesvorschläge erarbeiten, sie redaktionell aufarbeiten und sie mit Argumenten unterfüttern.

So etwas zu organisieren, braucht Personal und Räume und Geld. Wobei sich Personal und Räume leicht beschaffen lassen, wenn das nötige Geld vorhanden ist. Während Lobbyismus an sich in einer idealen Gesellschaft wünschenswert wäre, ist er heute oft ein Machtfaktor für Menschen und Konzerne, die das nötige Geld mobilisieren können.

Wohlgemerkt, nicht alles davon muss bösartig sein, selbst wenn es von Konzernen kommt. Manches Mal kann es einfach notwendig sein, das Know-How von Unternehmen in einen Gesetzestext einfließen zu lassen. Ich will hier keine moralischen Vorwürfe machen und ich vermute auch, dass die meisten Wirtschaftslobbyist*innen das aus bestem Gewissen tun oder zumindest ihre eigene Propaganda glauben.

Aber es ist nun mal so, dass wir in einer Kapitalistischen Gesellschaft leben und das Interesse von Konzernen in erster Linie darin liegt, Gewinne für ihre Shareholder zu erwirtschaften UND die Konzernlobbys die Aufgabe haben, den Gesetzgebungsapparat dahingehend zu beeinflussen, dass die Gewinne gesteigert oder zumindest erhalten bleiben.

Das sind übrigens nicht nur die Lobbys von amorphen mächtigen Superkonzernen. Auch kleinere Betriebe können sich zu mächtigen Lobbyorganisationen zusammenschließen. Viele winzige Unternehmen sind Mitglied in der IHK. Auch kommunale Stadtwerke sind Bestandteil dessen, was als „die Energielobby“ bezeichnet wird.

Es gibt aber auch Möglichkeiten für einzelne Menschen auf die Politik einzuwirken. Durch das bereits erwähnte Organisationsrecht. Und es gibt sehr viele Organisationen, die genau das versuchen. Gewerkschaften und sogenannte NGOs sind wohl die bekanntesten Fälle davon. Auch die Studierendenvertretungen und AStAs fallen darunter.

Aber letztlich sind auch Parteien eine Art von Lobbyorganisation. Denn Parteien bestehen nicht nur aus ihren Abgeordnetenbüros, sondern aus Leuten die Wahlprogramme schreiben und versuchen auf ihre Abgeordneten Druck zu machen, damit diese Programme umgesetzt werden.

Wenn keine Ressourcen für direkten Lobbyismus vorhanden sind, gibt es auch die sehr beliebte Möglichkeit der Demonstration auf der Straße. Die neben dem Wahlrecht und der Organisationsfreiheit ein Fundament der Demokratie bildet.

Aber wir sollten uns nichts vormachen. Gewerkschaften und Parteien wurden über Jahrzehnte strukturell geschwächt, während Wirtschaftslobbys ausgebaut wurden. Das Demonstrationsrecht wird jedes Jahr aufs Neue mit stärkeren Auflagen eingeschränkt. Und die Handlungsfähigkeit der unteren Gremien der Politik (den Kommunen und Ländern) wurde durch den Sparzwang so weit eingeschränkt, dass sich die Leute an immer höhere Gremien wenden müssen um kleine Probleme zu lösen. Das ist ein erhebliches Problem für das Funktionieren der Demokratie.

Auch hier ist das Misstrauen gegen das Parlament, das ständig in der Debatte mitschwingt, ein fundamentales Problem. Es ist ein gefährlicher Zustand, wenn der Bundestag weniger Ressourcen (das heißt Personal für Recherche und Ausarbeitung von Gesetzestexten) hat, als eine willkürliche mit Geld gepamperte Lobbyorganisation. Das ist in den USA schon sehr lange der Fall und führt zu Think Tanks, die oft Gesetzestexte und sogar Wahlprogramme selbst schreiben.

Der Ruf nach Volksabstimmungen und direkter Demokratie ist dabei nur beschränkt sinnvoll. Denn auch die Texte von Volksbegehren müssen juristisch ausgearbeitet werden und die notwendigen Kampagnen kosten sehr viel Geld. Aus den USA ist längst bekannt, dass Lobbygruppen sich genauso an die Bevölkerung selbst wenden können wie an ihre Vertreter*innen. Eine Wirtschaftslobby als Bürgerrechtsbewegung zu tarnen, ist das Geschäftsmodell der Waffen liebenden NRA, die jedes Mittel im politischen Apparat ausnutzt, um mehr und mehr Waffen in Umlauf zu bringen. Bei den „Klimaskeptiker*innen“ gestaltet sich die Lage ähnlich.

Die Frage nach dem Lobbyismus darf also keine antidemokratische Suche nach fantastischen Verschwörungen im Hinterzimmer sein. Lobbyismus findet sehr öffentlich statt und die Machtverhältnisse in der Öffentlichkeit sind sehr ungleich. Für uns als Sozialdemokrat*innen und Sozialist*innen muss es ein wichtiges Ziel sein, die zivilgesellschaftlichen Organisationen jenseits des Staates und der Wirtschaft wieder zu stärken. Wir müssen die Menschen wieder organisieren. Es reicht nicht, im Wahlkampf ihre Stimmen abzuholen. Wir sind trotz aller Wahlverluste noch immer die Mitgliederstärkste Partei. Das ist die Stärke, die wir nutzen und ausbauen müssen.

ABER…

Das war jetzt vielleicht ein kämpferischer und dramatischer Abschluss, aber dieser Artikel wäre nicht fertig, wenn man nicht noch einen Bogen fast bis zum Anfang zurückschlagen würde.

Ich habe anfangs erwähnt, dass es sinnvoll sein kann, Leute aus bestimmten Entscheidungen auszuschließen, weil die Entscheidung sie nichts angeht. Das ist richtig. Aber nicht immer.

In unserer Gesellschaft ist es ein lange geltender Konsens, dass die wichtigsten Entscheidungen in einem Unternehmen Entscheidungen der Eigentümer*innen dieser Unternehmen sind. Zwar haben Betriebsräte durchaus einige Rechte, aber dies wird durch die Macht der Shareholder meistens weggespült.

Und natürlich sind die Regeln, die in einem Unternehmen gelten, keine Gesetze. Sie gehören aber mit zu den wichtigsten Regeln, die wir Menschen in unserem Erwerbsleben befolgen müssen.

Warum also akzeptieren wir das, dass wir aus den wichtigsten Entscheidungen dieses Unternehmens ausgeschlossen sind, als ob es uns nichts angehen würde, während Aktionär*innen, die das Unternehmen oft nur aus der Werbung kennen, alle Macht innehaben?

Wäre es nicht sinnvoller, wenn die Entscheidungen nicht in der Hand derer liegen, die sich aus einer bloßen Gewinnerwartung ein Aktienpaket gekauft haben, sondern bei denen, deren tagtägliches Leben durch das Unternehmen bestimmt wird?

Wäre es nicht vielleicht sinnvoll, Unternehmen zu gestalten wie einen demokratischen Verein jenseits des Staates anstatt einer Eigentümer*innen-Diktatur? Und wäre dann vielleicht der Wirtschaftslobbyismus gar nicht mehr so ein Problem wie er es jetzt ist?

Wie würden wir so eine Wirtschaftsdemokratie nennen? Das alte Wort dafür lautet Sozialismus.

Vielleicht kann Kevin Kühnert dazu mal ein Interview geben.

Ein Beitrag von Tim