Ich bin alt und ich weiß nicht mehr was bei den Jungen Leuten heute so los ist, aber wer wie ich in den 1990er und 2000er aufgewachsen ist, der erinnert sich vielleicht, dass es bei der Bewertung von Musik nur eine einzige Kategorie gab: Nämlich ob etwas „Kommerz“ ist oder nicht.
Die Verachtung auf Kommerzmusik hat mich dazu getrieben Britney Spears zu verachten und stattdessen Limp Bizkit zu hören. Eine tiefgreifende Entscheidung die ich noch heute bereue.
Die Ironie dabei ist natürlich, dass die vulgär schimpfende Antikommerzband Limp Bizkit auf einer perfekt produzierten Welle geschwommen ist, die den in den 90er Jahren entstandenen Frust auf Boygroups wie die Back Street Boys kapitalisiert. Wir könnten an diesem Beispiel weiter diskutieren, welcher inhärente Sexismus darin steckt, dass der Vorwurf der „Kommerzmusik“ vor allem Musik betroffen hat deren Zielgruppe junge Frauen war, während das „echte“ das „reale“ in Bedienen von vulgärer Männlichkeit bestand, aber die eigentliche Message sollte sein, dass es kaum möglich ist Musik zu finden, die nicht „kommerzialisiert“ ist.
Das Reale und das Echte, scheint uns oft nur rückwirkend real und echt. Die Beatles waren hochgradig kommerzialisiert und als weiße hübsche Bubis, mit sanften Rhytmen, dem Massenpublikum besser verkaufbar als die schwarzen Rock’n’Roll-Künstler ihrer Zeit. Die Kompositionen von Mozart und Beethoven wären nie aufgeführt worden, wenn niemand gehofft hätte, aus dem kommerziellen Erfolg des Ganzen das Orchester bezahlen zu können.
Das bedeutet nicht, dass die Kunst von Mozart, Beethoven und John Lennon, nicht bahnbrechend, rebellisch, herausfordernd oder genial sein kann. Aber sie sind Produkte einer kapitalistischen Kulturindustrie, die schon früh gelernt hat, dass sich mit dem Gefühl der Rebellion Konzerthäuser füllen lassen.
Viele der großen Kunstwerke der Gegenwart, nicht nur Musik, sondern Filme und Videospiele basieren nicht auf der künstlerischen Vision einer*s einzelnen, sondern auf der massenweisen Koordination von Tausenden Künstler*innen.
Eine Idee, die 1982 von Michael Eisner, dem damaligen CEO der Walt Disney Corporation am zynischsten formuliert wurde mit den Worten: „Wir haben keine Verpflichtung Geschichte zu schreiben. Wir haben keine Verpflichtung Kunst zu machen. Wir haben keine Verpflichtung eine Aussage zu machen. Geld zu verdienen ist unser einziges Ziel. ///We have no obligation to make history. We have no obligation to make art. We have no obligation to make a statement. To make money is our only objective.” (Quelle)
Trotzdem wäre es gefährlich anzunehmen, dass sämtliche Kultur kapitalistisch kommerzialisiert wäre und zu ignorieren, dass die Kommerzialisierung von Kultur voranschreitet und enger wird. Unternehmen wie die Walt Disney Corp. haben es über Jahrzehnte geschafft so dominant zu werden in unseren kulturellen Selbstverständlichkeiten, dass es kaum noch möglich ist Kunst und Kultur außerhalb des Korsetts der Verwertungslogik zu erstellen.
Nach all diesem Vorgeplänkel, wollen wir jetzt mit der Theoriearbeit beginnen.
Um das Phänomen der Kommerzialisierungen von Kultur richtig zu verstehen, ist es wichtig zuerst zu definieren was „Kultur“ überhaupt sein soll und wozu sie gut ist. Damit alleine kommen wir zu einem Problem, denn Kultur ist einer dieser Begriffe, für die es keine gute Definition geben kann. Ob etwas Kunst oder Kultur ist, ist eine zutiefst subjektive Empfindung – ob etwas Kunst ist oder nicht. Wenn wir die Definition zu breit aufstellen, dann fällt einfach absolut alles was überhaupt erdenklich ist unter Kultur und der Begriff ist bedeutungslos. Wenn wir die Definition zu eng aufstellen werden viele Dinge, die wohl unzweifelhaft Kultur oder Kunst sind, herausfallen. Es wird schlicht niemals eine gute allumfassende Definition dafür geben, aber weil wir hier mit irgendwas arbeiten müssen stellen wir folgende Arbeitsdefinition auf:
„Kultur ist etwas das nicht materiell notwendig ist, aber schade wäre, wenn es weg wäre.“
Zum Beispiel würde darunter Musik fallen. Es gibt keine materielle Notwendigkeit für Musik und ihre Genres, trotzdem würde sich niemand eine Welt ohne Musik wünschen. Im Gegenteil, es ist weitreichender Konsens, dass Musik und ihre vielen Genres ein erheblicher Bestandteil des Reichtums der Zivilisation sind.
Ein weiteres, aber komplizierteres Beispiel, sind Kochrezepte. Sicherlich gibt es eine materielle Notwendigkeit für Essen an sich, die unermessliche Vielzahl von Speziellen Gerichten und Rezepten, die es auf dieser Welt gibt, ist aber nicht notwendig und trotzdem großartig.
Aber auch etwas so simples wie ein Witz ist zweifellos ein Kulturgut. Es gibt keine Notwendigkeit für Witze, aber verzichten möchte darauf niemand.
Die Menschheit ist nicht die einzige Spezies auf diesem Planeten die Kultur betreibt, aber niemand würde anzweifeln, dass das Ausmaß und der Umfang in dem Menschen kulturschöpferisch tätig sind, eine der herausragenden Besonderheiten von Menschen ist.
Lange Zeit wurde in der Psychologie behauptet, dass die kulturellen Bedürfnisse von Menschen hinter den Bedürfnissen nach Nahrung und Sicherheit zurückstehen. Diese Behauptung übersieht aber, dass Menschen selbst in den schrecklichsten, würdelosesten und gepeinigten Lebenslagen noch kulturschöpferisch aktiv sind und Witze und Lieder über ihre Lage komponieren (Beispiel: Moorsoldaten Lied).
Kultur ist also paradoxerweise nicht notwendig und gleichzeitig das notwendigste überhaupt.
Es ist also naheliegend, dass ein ökonomisches System wie der Kapitalismus versucht die Erschaffung und Gestaltung von Kultur für sich zu kapitalisieren.
Der Kommerzialisierung von Kultur stehen aber zwei wichtige Dinge entgegen. Das sind die immaterielle Natur von Kultur, die es schwierig macht, ein Preisschild darauf zu kleben und auf dem Markt zu verkaufen. Das andere ist, dass der schöpferische Prozess stärker als die Herstellung von Verbrauchsgegenständen einem ununterbrochenen Innovationszwang unterworfen ist, der es sehr viel schwieriger macht Kunst vom Fließband zu produzieren als beispielsweise Autos.
Beide Probleme mussten gelöst werden, um Kultur kapitalistisch zu erschließen.
Zum ersten Problem:
Während einzelne Kunstwerke immer schon gehandelt wurden war die Idee, dass Kunst an sich handelbar sein soll, über Jahrtausende ein völlig unvorstellbares Ding. Das Wort „Kunst“ war schlicht ein Synonym für Handwerk und ein*e Künstler*in eine Person, die in einem speziellen Handwerk geschult war. Mit der Verbesserung von Druckmethoden und später Tonträgern wurden viele dieser Kunstwerke sehr rasch vervielfältigbar, so dass der einzelne materielle Kunstgegenstand an Wert verlor. Stattdessen wurde die metaphysische Essenz der Kunst an sich mit Wert belegt. Der Begriff „Kunst“ wurde zu einem wertenden Begriff um einem Bestimmten Ding einen höheren kulturellen Wert zuzuschreiben als einem anderen.
Dadurch wird es möglich für die edle Fotokopie eines Monet-Gemäldes mehr Geld zu verlangen als für das handgemalte Mohnblumenbild eines unbekannten Malers. Die Ironie daraus ist, dass der moderne Begriff der „Kunst“ sich immer schon dargestellt hat als eine rebellische Alternative zur industriell produzierten Massenware und gleichzeitig der Rohling für die billigste Form von Massenware ist. In jeder Kritzelei einer*s untalentierten Künstlerin*s steckt mehr kreative Eigenleistung als in einer Fotokopie der Mona Lisa. Unsere Vorstellung von „kulturellem Wert“ ist jedoch genau umgekehrt.
Damit so etwas überhaupt möglich ist, ist es notwendig ein geistiges Eigentum zu definieren, dass sich nicht an einem materiellen Objekt festmacht, sondern irgendwie kosmisch durch den Äther schwebt. Dieses Konzept von geistigem Eigentum wäre noch vor 200 Jahren völlig undenkbar gewesen, wurde aber mittels Unternehmenspropaganda tief in unser Kulturverständnis eingepresst und wird bis heute immer mehr intensiviert.
Auf Social Media ist es mittlerweile üblich geworden selbst bei weiterzählten Witzen, anzugeben wo man den Witz ursprünglich gehört hat, weil man nicht als Witzplagiator*in beschuldigt werden will.
Das Ganze wird häufig legitimiert damit, dass es das Einkommen von Künstler*innen sichern soll, die von ihrer Kunst leben. Und während diese Idee zweifellos ihren Charme hat, scheitert sie daran, dass Unternehmen mittlerweile sehr gut verstanden haben sich die geistigen Rechte ihrer Angestellten anzueignen.
Zum zweiten Problem:
Ein*e einzelne*r Autor*in kann allein vor dem Rechner einen sehr guten Roman schreiben. Aber er kann ihn nicht alleine drucken und in Vertrieb bringen. Es gibt zwar einige Autor*innen die ihre Bücher im Eigenverlag herausbringen, die Verknüpfung von Verlagen, mit Zeitschriften und Foren macht es aber unheimlich schwer so Aufmerksamkeit zu bekommen um die Bücher zu verkaufen. Die Ironie besteht darin, dass eine Autor*in ihr geistigen Eigentum an einen Verlag verkaufen muss um davon leben zu können. Nur in den seltensten Fällen sind die Künstler*innen selbst die Rechteinhaber*innen ihrer eigenen Kunstwerke.
Eines der dramatischten Beispiele dafür ist Bill Finger, der die Comicfigur Batman erstellt hat und dafür kaum je eine Bezahlung gesehen hat und erst nach seinem Tod überhaupt erst namentlich genannt wurde.
Die Probleme werden umso intensiver, wenn wir in Kunstformen eintreten, die unmöglich von einzelnen Künstler*innen erstellt werden können. Der wohl einflussreichste Filmmagnat aller Zeiten, Walt Disney, hat sein Vermögen damit gemacht unzählige Zeichner*innen zu Hungerlöhnen unter fürchterlichen Arbeitsbedingungen für sich schuften zu lassen und systematisch Rechte von anderen Künstler*innen aufzukaufen. In der firmeneigenen Propaganda der Walt Disney Corp. verschwinden die Namen der Menschen, die die Kunst möglich machen und alles wird überdeckt durch das Mickey Mouse Logo. (Eine satirische Aufarbeitung des ganzen findet sich hier. Allerdings wurde auch diese satirische Aufarbeitung unter dem großen Schirm der Walt Disney Corp. produziert.)
Obwohl die Walt Disney Corp. in ihrer Anfangszeit enorm davon profitiert hat, dass rechtefreie Geschichten, wie die Märchen der Gebrüder Grimm zur Verfügung standen, hat sie über das letzte Jahrhundert enorm darum gekämpft, das Urheberrecht immer restriktiver zu gestalten um nie die Kontrolle zu verlieren über den immensen Berg an Urheberrechten die der Konzern angehäuft hat.
Wie in jedem anderen Teil der kapitalistischen Wirtschaft haben sich Unternehmen die Produktionsmittel angeeignet die Künstler*innen für ihre Arbeit brauchen, so dass Künstler*innen darauf angewiesen sind ihre Arbeitskraft an sie zu verkaufen. Das Konstrukt des geistigen Eigentums, das die Rechte der Künstler*innen schützen soll, dient im Wesentlichen dazu, alle herkömmlichen Arbeitsrechte zu umgehen.
Trotz der enormen Bedeutung und Umsätze der Kulturindustrie gehören Künstler*innen zu den am schlechtesten und prekärsten bezahlten Berufsgruppen überhaupt. – Und in einer Krise, wie der aktuellen Covid19 Krise werden sie rasch als „nicht-essentiell“ erklärt während der Rest der Bevölkerung Netflix leerschaut und die Ironie dabei nicht erkennt.
Aber wo ist das Problem?
Jetzt lasst uns mal brutal sein und so tun als wären uns die Rechte der Künstler*innen völlig egal. Wir sehen das alles nur von der Verbraucher*innen Seite und alles was wir wollen ist möglichst viele, möglichst gute Kulturprodukte zu bekommen.
Hier lässt sich durchaus ein Zinken brechen für die kapitalistische Kulturindustrie. Wenn man über die miesen Arbeitsbedingungen von Visual-Effects-Artists hinwegsieht, sind Filme wie die Avengers Reihe zweifellos ein unvergleichliches Spektakel. Eine kulturelle Monumentalleistung, die nur unter dem Schirm der Walt Disney Corp. möglich war.
Gleichzeitig fällt eine erdrückende Ideenlosigkeit in der Kulturindustrie ins Auge. Denn die wichtigsten kulturellen Innovationen kommen historisch nicht von Künstler*innen, sondern entstehen im allgemeinen Gewaber von Ideen und Einflüssen. Die große Kunst und Industrie war immer davon abhängig, diese Ideen und Einflüsse aufzunehmen und mit enormer Handwerksleistung zu perfektionieren. Der Wahn des geistigen Eigentums trocknet diesen Mechanismus zunehmend aus. Das Verständnis von Kultur wird immer mehr eingeengt auf wenige kommerziell erfolgreiche Romane, Filme, Musikgruppen während die enorme Vielfalt von Dingen, die darum passieren, verschwindet.
Gleichzeitig werden die Räume in denen Kultur entsteht immer mehr eingeengt.
Die drei wohl größten Neuerungen von Musikstilen des 20ten Jahrhunderts: Rock n’Roll, Rap und Techno sind nicht in den Produktionsstätten der großen Plattenlabels entstanden, sondern in kleinen Klubs wo heute vergessene (oft schwarze) Künstler*innen probieren und lernen konnten.
Durch die weltweite Überschwemmung mit hochglanzgefertigten Kulturprodukten der Industrie, sind diese Räume immer mehr verschwunden und können nur noch mit öffentlicher Förderung am Leben gehalten werden. Die Neuinterpretation, Umgestaltung oder Abwandlung bestehender Kunstwerke ist immer stärker mit Rechtstreitigkeiten und Plagiatsvorwürfen verbunden.
Aber ohne den Pool von freien Ideen und Einflüssen, ist die Industrie gezwungen, die immer gleichen Filme und Dinge neu zu produzieren.