Anmerkung vorab: Im folgenden Artikel werde ich das Wort „Seuche“ verwenden. Das Wort ist historisch und emotional sehr belastet als ein Wort, dass eine besonders schlimme und heftige Infektionskrankheit beschreibt. Es gibt keine gute Definition davon, wann eine „normale Epidemie“ zu einer Seuche wird. Ich glaube aber, dass eine gute Definition die ist, dass eine Seuche nicht zwingend die Krankheit selbst ist, sondern eine Situation, in der eine Infektionskrankheit zumindest Teile des gesellschaftlichen Lebens bestimmt. Mit dieser Definition ist die globale Pandemie von Covid19 wohl das Paradebeispiel einer modernen Seuche, unabhängig davon, wie groß die Zerstörung und Todeszahl am Ende ausfallen wird. In dem Sinne verwende ich in diesem Artikel genau dieses Wort, im vollen Bewusstsein, welchen regelrechten Horror dieses Wort auslöst.
Die als Covid19 oder Corona bekannte Seuche hat Ende des letzten Jahres in China begonnen. Die chinesische Regierung hat erst sehr spät reagiert, dann aber umso drastischer, mit der vollkommenen Stilllegung des öffentlichen Lebens in den betroffenen Regionen. Eine Aktion die weltweit eine Mischung aus Kopfschütteln und Besorgnis ausgelöst hat. Die Heftigkeit der Maßnahmen war in der europäischen „Normalität“ schlicht nicht vorstellbar.
Doch von da an hat es nur noch wenige Wochen gedauert, bis der Horror der neuen Seuche in Europa angekommen ist. Mit den rasant steigenden Todeszahlen in Italien und dem weitverbreiteten Hashtag #flattenTheCurve kam dann der Bruch. Die allgemeine Stimmung des nervösen Wegschauens schlug um in die schockierte Realisation, dass die gewohnte europäische Normalität hinüber ist, dass sich unsere aller Leben für unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, dramatisch ändern wird.
Der globale Lockdown war der größte Einschnitt des öffentlichen Lebens seit dem Ende der Weltkriege. Eine Prozedur, die in dieser Größenordnung noch nie unternommen oder versucht wurde. Die psychosozialen und ökonomischen Folgen sind völlig uneinschätzbar.
Doch mittlerweile (zu dem Zeitpunkt, an dem das hier geschrieben wird), hat sich die Diskussion längst wieder verschoben. Der anfängliche Horror verschwindet zunehmend. Während die täglichen Todesmeldungen noch vor wenigen Wochen eine hypnotische Angststarre ausgelöst haben, hat man sich mittlerweile daran gewöhnt. Auch hat der Lockdown offensichtlich gewirkt. Die Infektionszahlen sinken im Großteil Europas. Und weltweit fragen die Leute „Mutti, sind wir schon da? Wann wird denn alles wieder normal?“
Diese Diskussion über die Rücknahme, Lockerung und Dauer der Maßnahmen ist einerseits völlig verständlich. Während das ganze anfangs noch einen Eventcharakter hatte, sind die Menschen mittlerweile gelangweilt von den veränderten Umständen und wollen wieder zurück in ihr gewohntes Leben. In eine glorifizierte Zeit des Idyllischen Lebens im Jahre 2019.
Die Debatte ist aber auch völlig absurd und lächerlich, weil sie auf falschen Grundannahmen beruht.
Auf der einen Seite stehen Leute, die die Gefährlichkeit der Seuche herunterspielen, um zu begründen, dass es gar keine Maßnahmen bräuchte. Hier tummeln sich viele Verschwörungstheoretiker*innen, und die übliche Crowd von Schwurbler*innen. Aber auch viele Leute, für die die Maßnahmen eine erhebliche Belastung darstellen und die sich völlig zurecht aufregen.
Auf der anderen Seite stehen Leute, die die regelrecht biblische Bedrohung durch die Seuche in so apokalyptische Höhen schwingen, dass schlicht jede Maßnahme gerechtfertigt ist, bis die Seuche ausgestanden ist. Während sich hier viele Leute tummeln, die sich der naturwissenschaftlichen Ratio verbunden fühlen, sind hier auch viele dabei, die ihre Freude an der Apokalypse und Wünsche nach autoritärer Staatlichkeit voll ausleben.
Sicherlich sind diese Fronten vereinfacht dargestellt und es hat über die letzten Wochen auch eine schleichende Differenzierung stattgefunden, aber ich denke die meisten Leser*innen wissen genau was ich meine.
Es liegen grundlegende Unterschiede bei den moralischen Wertvorstellungen zu Grunde. Die Art und Weise wie die Begriffe „Eigenverantwortung“, „Freiheit(-srechte)“ und „Vernunft“ verwendet werden, zeigt ziemlich klar, dass es hier um Leute geht, die sich auch vorher ideologisch nicht grün waren. Wie bei so vielen hat Covid19 die Spaltung nur sehr deutlich zu Geltung gebracht, obwohl diese schon lange geschwelt hat.
Und an dieser Stelle ein STOPP! Ich will diese Seiten nicht gleichsetzen. Ich befinde mich selbst klar im Lager der Pro-Wissenschaft und Pro-Maßnahmen Fraktion. Ich halte sehr wenig davon, die Gefährlichkeit der Seuche und die Leistung von Wissenschaftler*innen herunterzuspielen, nur um die eigenen Befindlichkeiten gegen äußere Verantwortung zu immunisieren. Grundsätzlich sollten Leute, die die Seuche für ungefährlich halten und auf persönliche Schutzmaßnahmen verzichten, nicht von „Eigenverantwortung“ reden. Ganz besonders dann nicht, wenn die „Eigenverantwortung“ darin besteht, andere sterben zu lassen.
Dennoch bin ich der Meinung, dass die Diskussion auf beiden Seiten mit falschen Annahmen geführt wird, die es aufzuklären gilt. Erst dadurch wird es möglich sinnvoll über die politische Gestaltung der Seuchenrealität nachzudenken, ohne die Gefährlichkeit der Seuche oder die berechtigten Sorgen von prekär Betroffenen zu ignorieren.
Die drei falschen Prämissen lauten:
- Es gibt nur die Wahl zwischen mehr oder weniger Maßnahmen.
- Die psychosozialen Auswirkungen des Lockdowns lassen sich anhand von ökonomischen Daten abschätzen.
- Es gibt ein abschätzbares Datum an dem Covid19 aufhört ein Problem zu sein.
Diese verschiedenen Annahmen sind natürlich mit einander verwoben und bedingen sich gegenseitig. Außerdem sind sie in ihrer Falschheit so komplex, dass es sich lohnt sie in ihre Grundthesen aufzudröseln. Es ist also schwer zu entscheiden womit man anfangen soll, aber irgendwo muss man anfangen, deswegen beginne ich mit…
Falsche These 1: Es gibt nur die Wahl zwischen mehr oder weniger Maßnahmen
Richtig ist: Die Maßnahmen müssen untereinander abgestimmt werden, um ihre Wirksamkeit und psychosoziale Verträglichkeit zu verbessern. Dafür braucht es einen politischen und demokratischen Prozess.
Wenn wir von Maßnahmen reden dann ist in der Regel gemeint irgendwas-das-der-Staat-macht-um-Covid19-einzudämmen. Und das allein ist schon ein Problem. Das ist falsch. Einzelne Menschen können sehr viele Maßnahmen treffen, um sich und andere zu schützen. Das ist es, was mit dem Wort Eigenverantwortung gemeint sein sollte.
Das Prinzip Eigenverantwortung ist nicht unerfolgreich. Es wurde zum Beispiel in Südkorea (neben anderen Maßnahmen) sehr erfolgreich angewandt. Dass es in Deutschland gescheitert ist, liegt einerseits daran, dass viele Leute ihre Eigenverantwortlichkeit als Vorwand genommen haben, keine Verantwortung zu übernehmen. Andererseits, weil es die Regierung mit ihrer inkonsistenten Strategie und dem langen Herunterspielen der Lage der breiten Öffentlichkeit unmöglich gemacht hat, sich eigenverantwortlich zu verhalten. Weil schlicht niemand wusste, was Sache ist, wo und ob man sich testen lassen kann, wie man ins Homeoffice kommt, wie man seine Kinder betreuen soll, usw.
Weil die breite Masse der Individuen für etwa eine Woche lang verwirrter war als die von Expert*innen beratene Regierung, war Eigenverantwortung schlicht nicht möglich. Der Staat musste mit seiner Autorität durchgreifen, um die notwendigen Verhaltensänderungen zu erzwingen.
Aber selbst, wenn wir annehmen, dass die Bevölkerung zu eigenverantwortlichem Verhalten völlig unfähig ist, dann bestehen die Möglichkeiten des staatlichen Handelns eben nicht nur aus Polizei-Action. Leider hat die neoliberale Ideologie das Verständnis davon was ein Staat tun kann, so massiv eingeschränkt, dass die Maßnahmen wirklich nur aus Schulschließungen, Grenzschließungen und autoritärem Durchgreifen in der Öffentlichkeit bestanden haben. Dabei hätte es andere Dinge zu tun gegeben. Wie zum Beispiel eine gescheite Informationskampagne, das frühzeitige Einkaufen von Tests und Masken oder Inspektionen an den Arbeitsplätzen, ob dort Schutzmaßnahmen ergriffen werden. All diese Dinge wären in den Bereich der Verwaltung gefallen. Leider ist die Verwaltung des Staates das, was über die letzten Jahrzehnte am härtesten kaputtgespart wurde. Schlimmer noch als das Gesundheitssystem. Und über das Gesundheitssystem ist glaube ich in der allgemeinen Diskussion wohl schon genug gesagt. All das sind Dimensionen des staatlichen Handelns, die in der Debatte über „Eigenverantwortung“ und „Freiheitsrechte“ völlig unter den Tisch fallen, aber fundamental für den Fortlauf der Krise sind.
Aber selbst, wenn wir annehmen, dass der Staat wirklich nichts tun kann außer Schulen schließen und Polizei herumschicken, können die Maßnahmen widersprüchlich und im schlimmsten Fall kontraproduktiv sein. Es ist zum Beispiel völlig trivial abzuschätzen, dass eine Schließung von Schulen dazu führt, dass mehr Jugendliche auf Straßen, Parks und Spielplätzen unterwegs sind. Und ich finde es fast spektakulär, wie viele Leute davon überrascht waren. Die Bevölkerung ist eben keine Armee von Robotern, die auf Befehl gehorcht, sondern ein pluralistischer Haufen mit unterschiedlichen Lebenslagen. Stoisches Zuhause bleiben ist nicht für alle gleich gut machbar, für manche gar nicht. Und wenn eine Vorgabe als unerfüllbar verstanden wird, dann beginnen die Leute dagegen zu verstoßen. Und zwar nicht nur gegen den unmachbaren Teil der Regeln, sondern gegen die Regeln insgesamt. Ich sage nicht, dass das richtig ist, aber es passiert halt und ist völlig vorhersehbar und auch nicht durch mehr autoritäres Durchgreifen lösbar.
Wenn man sich von der negativen Konnotation des Wortes „Kontrolle“ löst, dann ist die bürgerliche Demokratie das erfolgreichste Werkzeug zur sozialen Kontrolle aller Zeiten. Es gelingt tagtäglich eine gigantische Vielfalt von Menschen durch geregelte Bahnen zu leiten. Aber das eben nur deswegen, weil die demokratischen Aushandlungsprozesse es ermöglichen, die unterschiedlichen Lebensrealitäten, ihren Möglichkeiten entsprechend, einzubinden. Sicherlich gab es im anfänglichen Handlungsdruck kaum eine Möglichkeit den vollständigen demokratischen Diskurs durch zu arbeiten. Mittlerweile war aber genug Zeit dazu und es ist ein gefährlicher Fehler, die Bedenken von Menschen in prekärer Lage zu ignorieren.
Aber selbst, wenn wir annehmen, dass der demokratische Prozess völlig unnötig ist und durch eine hochtolle Expert*innenkommission ersetzt werden kann: Dann ist trotzdem noch festzustellen, dass die Gestaltung des sozialen Gefüges einer Gesellschaft nicht in die Expertise von Epidemiolog*innen fällt, sondern in die von Sozialwissenschaftler*innen. Und es ist absolut nicht rational, vernünftig oder wissenschaftsorientiert, die größten gesellschaftlichen Einschnitte seit dem Ende der Weltkriege zu unternehmen ohne sich dabei von Sozialwissenschaftler*innen jenseits der Ökonomik beraten zu lassen.
Es braucht keine Fantasien darüber wie alles wäre, wenn alle sich ideal verhielten und wie man sie dazu prügeln kann das zu tun, sondern darüber ob Menschen physisch und psychisch in der Lage sind die gewünschten Maßnahmen umzusetzen. Und wenn sie nicht dazu in der Lage sind, geht es darum sie in die Lage zu versetzen oder gänzlich andere Maßnahmen vorzuschlagen.
Weiter zur nächsten These…
Falsche These 2: Die psychosozialen Auswirkungen des Lockdowns lassen sich anhand von ökonomischen Daten abschätzen.
Richtig ist: Umsätze und Gewinne waren schon vor dem Ausbruch der Seuche kein guter Indikator für das Wohlbefinden der Bevölkerung, sie sind es auch jetzt nicht. Es ist unehrlich, die besondere Belastung von Menschen in prekärer Lage als Vorwand für eine Rückkehr zu der gewinnorientierten Wirtschaft zu verwenden, die viele Menschen überhaupt erst in ihre prekäre Lage gebracht hat.
Eine der wichtigsten Behauptungen, unter denen unser Wirtschaftssystem funktioniert, ist die, dass das wirtschaftliche Gewinnstreben der einzelnen Menschen als Nebeneffekt den besten Wohlstand und das größte Glück für alle erzeugt. Diese Behauptung ist falsch und wurde so oft schon widerlegt, dass es müßig ist wieder damit anzufangen.
Aber kurz gefasst: Nur wenig vom Boom des Aktienmarktes fällt auf die Bevölkerung zurück; oft werden Aktienkurssteigerungen durch Entlassungen und Lohnsenkungen erwirkt; Leute mit geringem oder kleinem Einkommen, tragen kaum zum BIP bei und werden deswegen übersehen oder aktiv ausgeschlossen; eine Steigerung der Produktion bedeutet mehr Arbeit für Arbeiter*innen, was mehr Stress und damit mehr Erkrankungen bedeutet.
Ein substanzieller Teil von dem was wir für unser Wohlbefinden brauchen ist nicht kommerziell und damit auch nicht wirtschaftlich erfasst. Das Wichtigste darunter sind Freundschaften und Beziehungen. Unternehmen versuchen zwar die Räume, in denen wir uns treffen zu kommerzialisieren, die grundlegende freundschaftliche Beziehung bleibt aber kostenfrei (hoffentlich). Aber weil freundschaftliche Begegnungen keine Gewinne erwirtschaften war es auch kaum die eine Überlegung wert, diese als erste zu einzuschränken.
Ein substanzieller Bestandteil der Maßnahmen richtet sich daran, wen wir wo treffen dürfen, während es kaum Vorgaben und Inspektionen für den Arbeitsplatz gibt.
Die härteste wirtschaftliche Einschränkung ist die, die Gastronomie, den Einzelhandel und die Kunst betrifft. Aber dazu sei anzumerken, dass der Skitourismus in Bayern noch voll im Gang war, als die Schulen bereits geschlossen waren und dass die Kneipe um die Ecke kein exportorientierter Industriekonzern ist.
Aber selbst, wenn wir annehmen, dass die Wirtschaftsdaten das Maß aller Dinge sind, dann kommen wir zu dem Problem, dass diese Daten eben vor allem Gewinne beschreiben. Und während es richtig ist, dass Gewinne quer durch die Volkswirtschaft eingebrochen sind, ist real nichts zerstört worden. Es ist keine Fabrik abgebrannt, all die Kneipen und Wirtshäuser stehen noch. Es fehlen ihnen nur die Einnahmen. Es gibt sehr viele Möglichkeiten des solidarischen Wirtschaftens, die eine Erhaltung von Betrieben selbst ohne bestehende Einnahmen und Gewinne am Leben halten können. Dazu gehören Vereinsgründungen, eine (Teil-)Verstaatlichung und allgemein eine Vergesellschaftung des Vermögens, gepaart mit einer finanziellen Überbrückung für die vorübergehend arbeitslosen Angestellten. All das sind erprobte und erfolgreiche Prozeduren, die in Deutschland auch angewandt werden (wenn auch mit Einschränkungen und nicht flächendeckend).
Es ist halt von vorn herein keine gute Idee, das gesamte Wirtschaftssystem an kurzfristigen Gewinnerwartungen auszurichten. Es hätte keine Seuche gebraucht, um das festzustellen.
Leider ist genau das eine Maßnahme, die die Lockerungsenthusiast*innen besonders kritisch sehen. Die Leopoldina hat in ihrem Fahrplan zum Ende des Lockdowns das als einen besonders wichtigen Schritt gesehen. Die Rückkehr zum vollständig befreiten Markt und dem willkürlichen Gewinnstreben. Wirtschaftliche Solidarität ist eine der sinnvollsten Maßnahmen gegen die Seuche, aber auch das was die Ideolog*innen des Neoliberalismus als größtes Übel der Welt bekämpfen. Leider schaffen sie es in der Debatte um mögliche Lockerungen, genau das sehr gut mit den berechtigten psychosozialen Sorgen vieler Menschen zu verbinden. Eben weil die Befürworter*innen der Maßnahmen den Fehler machen, den wir bei der ersten These diskutiert haben.
Aber selbst, wenn wir annehmen, die ökonomische Dogmatik wäre super und alles in Butter was das angeht. Dann muss trotzdem ins Auge fallen, dass ausgerechnet die Berufe, die allgemein als „systemrelevant“ bezeichnet werden, weil sie in der gegenwärtigen Krise unverzichtbar sind, gleichzeitig die Berufe sind, die ganz, ganz unten auf der Gehaltstabelle stehen. Diese Leute müssen gerade das höchste Risiko von allen aushalten und werden gleichzeitig mit fundamentalen Einschränkungen ihrer Arbeitsrechte (Streichung von Urlaub, Arbeitszwang im Krankheitsfall, erweiterte Arbeitszeiten) konfrontiert. Während es ziemlich sicher ist, dass die Polizei sich nicht dauerhaft darum bemühen wird, weiße gutbürgerliche Senioren von den Parkbänken zu verjagen, ist diese Garantie im veränderten Arbeitsrecht nicht gegeben.
Weiter im Text…
Falsche These 3: Es gibt ein abschätzbares Datum an dem Covid19 aufhört ein Problem zu sein.
Richtig ist: Wir sind nicht am Anfang der Pandemie, sondern die Pandemie war erst der Anfang.
Jetzt kommt das demotivierende. Viele hängen sich fest an Szenarien, in denen Covid19 wieder verschwindet, eingefangen wird oder wegen einer besonders tollen Behandlung ungefährlich wird. Die Wahrheit ist, dass keines dieser Szenarien besonders realistisch ist. Lass sie uns einmal schnell durchgehen.
Da ist zum einen das mit Herdenimmunität. Die Idee ist, dass Menschen, die einmal die Seuche hatten, dann immun sind dagegen. Wenn wir die Infektionsrate gering, aber stabil halten, können wir die Bevölkerung kontrolliert durchseuchen, bis am Ende der Großteil der Bevölkerung das schon hatte und wir alle wieder normal leben können. Das war die Idee, die unter dem berühmten Slogan #flattenTheCurve vorgeschlagen wurde und wohl tatsächlich die anfängliche Strategie war, als der Ernst der Lage erkannt wurde, heute aber nur noch in Schweden verfolgt wird.
Das Konzept hat einen gewissen morbiden Charme, der nicht zu leugnen ist. Es ist die Vorstellung einer großen kollektiven Katharsis, in der viele Entbehrungen wahrgenommen werden und viele Tränen fließen, die Menschheit am Ende aber gestärkt hervor geht. Ich will nicht leugnen, dass diese Idee wichtig war, weil sie erheblich dazu beigetragen hat, der Bevölkerung (auch mir) den Ernst der Lage zu erklären. Sie fällt aber massiv auseinander, wenn man nur mal darüber nachdenkt.
Einerseits dauert diese kollektive Durchseuchung einige Jahre und andererseits ist es bis jetzt nur eine hoffnungsvolle Annahme, dass Menschen, die einmal infiziert waren, dagegen dauerhaft immun sind. Es häufen sich eher die Indizien dagegen. Und wenn es so ist, dass bereits Infizierte sich neu infizieren können, dann wird es niemals eine Herdenimmunität geben. Das Anstreben von Herdenimmunität ist dann nichts weiter als die schrittweise Beseitigung von älteren Menschen, Leuten mit Vorerkrankung und solchen ohne Krankenversicherung. Und ehrlich gesagt, habe ich den Verdacht, dass einige der Leute, die die Herdenimmunitäts-Strategie glorifizieren, das auch wissen und es gut finden.
Die zweite und vernünftigere Ausstiegsstrategie ist die des Containments. Die Idee ist, dass durch einen mehrmonatigen Lockdown die Zahl der Infizierten so weit gedrückt werden kann, dass die Infektionsketten wieder überschaubar sind. So können wir wieder zur klassischen Quarantäne zurückkehren. Dann werden zwar die potenziell Infizierten isoliert, der Rest der Bevölkerung kann aber wieder zum Alltag zurückkehren. Vielleicht gelingt es zu der „Normalität“ zurückzukehren, als Covid19 „nur“ in China unterwegs war.
Diese Strategie hat jedoch ein erhebliches Manko, nämlich dass sie nur funktioniert, wenn sie wirklich flächendeckend in Angriff genommen wird. Und bei einer globalen Pandemie heißt „flächendeckend“ eben global. Und das passiert nicht. Selbst wenn wir es schaffen, Deutschland und den Großteil der EU seuchenfrei zu bekommen, werden die Herdenimmunitätsexperimente in Schweden ein ewiger Infektionsherd sein. Wenn wir Deutschland infektionsfrei halten wollen, dann wird Schweden dauerhaft isoliert werden müssen. Und das ist „nur“ Schweden.
Die Seuche kommt erst jetzt in der sogenannten „dritten Welt“ an, wo die Staaten kaum die logistische Möglichkeit haben für einen Lockdown, Massentests und Isolierung. Ein erfolgreiches Containment, verlangt die dauerhafte Isolierung ganzer kontinentaler Regionen und ein Grenzregime, gegen das Frontex ein Witz war. Und das Ganze gepaart mit einem systematischen Tracking aller Bewegungsdaten, um eventuelle Infektionsketten nachzuvollziehen. Ein erfolgreiches Containment der Krankheit bedeutet, dass wir wieder unbeschwert in die Disco gehen können. Aber es ist alles andere als eine Rückkehr zur Normalität. Zumindest so lange, bis eine Impfung da ist.
Und die Impfung, bzw. magische Behandlung ist leider eher eine Hoffnung als eine garantierbare Tatsache. Ich bin kein Mediziner, aber meines Wissens ist es noch nie gelungen, eine Impfung gegen Coronaviren zu erstellen. Zugegeben, der Druck war noch nie so groß, sicher sind noch nie so viele Ressourcen in die Suche nach einer Corona-Impfung geflossen wie heute, aber selbst dann gibt es keine Garantie, dass Covid19 jemals impfbar wird. Aber auch wenn das so wäre und wir schon morgen eine perfekte Impfung entwickeln, die eine lebenslange Immunität garantiert, dann wird die Durchimpfung der Bevölkerung sehr, sehr lange dauern, wenn sie überhaupt in Angriff genommen wird. Der Prozess zur Ausrottung der Pocken hat Jahrzehnte gedauert.
Die Hoffnung auf eine großartige neue Behandlungsmethode sieht ähnlich trostlos aus. Es gibt für Viren kein Penizillin und das ist so. Die allgemeine Taktik im Umgang mit Virenerkrankungen ist schlicht, die Symptome zu lindern, den Menschen am Leben halten und darauf warten, dass das Immunsystem selbst damit klarkommt. Und das ist das.
Eine gewisse Hoffnung besteht in der Verbesserung der Behandlung. Gemeint ist damit kein Fortschritt im technologischen Bereich, sondern eine Anpassung in den Routinen der Menschen. Ärzt*innen und Pfleger*innen sammeln Erfahrungen im Umgang mit Covid19-kranken und können so besser einschätzen, wann eine Intubierung notwendig ist. Auch sollte die Ausbildung von neuem, ausschließlich auf Covid19 spezialisiertem Personal schneller gehen als die vollständige Pflegeausbildung. Gleichzeitig ist anzunehmen, dass die Zahl der verfügbaren Beatmungsgeräte eher steigen wird.
Deswegen können wir darauf hoffen, dass die Kapazität des (auf Covid19 spezialisierten) Gesundheitssystems stetig zunimmt und selbst bei einem erneuten Anstieg der Fallzahlen eine Einberufung der Triage und des damit verbundenen Horrors nicht notwendig wird.
Ebenso wird sich die Ausbreitungsgeschwindigkeit auch schon dadurch verlangsamen, dass die Menschen sich an Hygieneregeln gewöhnt haben und auf unnötige Kulturrituale wie den Händedruck (oder dieses fürchterliche Bussi-Bussi Zeug) verzichten.
Doch die zweite Welle ist ein absolut realistisches Ding und wegen der unkoordinierten Lockerungen wird sie mit sehr großer Wahrscheinlichkeit kommen. Viele Epidemiolog*innen warnen davor, dass diese zweite Welle größer und weitreichender sein wird als die erste, weil sie nicht mehr auf Epizentren konzentriert ablaufen wird, sondern flächendeckend. Wir sollten alle hoffen, dass es dabei bleibt und wir uns nicht an jährliche Wellen wie bei der Grippe gewöhnen müssen.
Das Worstcase Szenario ist nicht, dass Covid19 für die nächsten Jahre, sondern Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte auf dieser Welt sein Unwesen treibt. In jedem Fall wird es einen kolossalen, historisch einzigartigen Aufwand brauchen, die Seuche aus der Welt zu verbannen. Gerade jetzt wäre eine sehr gute Gelegenheit dafür, diesen Aufwand zu leisten, doch wegen unkoordinierter Strategien, Herdenimmunitätsenthusiast*innen, einer problematischen Priorisierung der Maßnahmen zu Gunsten der Wirtschaft und einem wirtschaftsideologischen Gedrängel nach der Rückkehr zum entfesselten Marktgeschehen, wird diese Chance gerade vergeben.
Und was machen wir jetzt?
Die Coronakrise hat viele Probleme, die schon lange vorher da waren, offengelegt und verschärft. Es hilft da wenig, in die USA zu schauen, wo die faktische Nichtexistenz jeglichen nennenswerten Gesundheitssystems und ein unfähiger Präsident mit rechtsradikaler Basis die Lage eskalieren lassen.
Auch die EU hat dramatisch versagt. Die Unfähigkeit der EU, zu einer gemeinsamen Strategie und Lösung zu finden, war schon lange bekannt und hat in der Fluchtkrise 2015 bereits zu einer desaströsen Eskalation geführt. Jetzt noch schlimmer. In einer „Rette sich wer kann“ Mentalität wurden die Märkte für Masken leer gekauft. Hamsterkäufe auf staatlichem Niveau. Jede der Nationen führt ihren eigenen Krieg gegen die Seuche, während die Grenzen dicht sind. Und in der grausigen Synergie von 2015 und 2020 werden die Menschen in den griechischen Flüchtlingslagern komplett schutzlos der Seuche ausgesetzt. Ebenso haben Ökonom*innen schon seit einem Jahr eine Rezession und potenziell verheerende Wirtschaftskrise am Horizont gesehen. Weil es nach der Finanzkrise 2009 keine kohärente Regulierung und Investitionen gegeben hat, sondern nur eine Sparpolitik und einen erheblichen Investitionsstau in der veraltenden Infrastruktur. Die Seuche hat diese Wirtschaftskrise nun gestartet und verschärft. Aber instabil war die Wirtschaft schon lange vorher.
Das fundamentale Problem mit dem Ruf nach „Normalität“ ist, dass die Normalität vor der Seuche alles andere als gut war. Die Normalität vorher war eine Normalität der wachsenden Ungleichheit, des massiven Ausbaues von Militär- und Sicherheitsapparaten, der sich endlos ausbreitenden Kriege rund um die Welt, der Wiederkehr des Faschismus und der immer näher rückende Klimakollaps, der in seinen zerstörerischen Auswirkungen Covid19 wohl in den Schatten stellen wird, so sehr, dass wir uns nach der „guten alten Zeit“ sehnen werden, in der eine Seuche unsere größte Sorge war.
Hinter dem von Wirtschaftslobbyist*innen schallenden Ruf nach einer Rückkehr zur „Normalität“ versteckt sich der Versuch, ein System schön zu reden, das nicht schön war. Oder eher noch steht der Ruf dahinter, die Probleme des Systems auch noch zu verschärfen. Denn unter dem Druck der Seuche wurden Maßnahmen durchgeschoben, die weniger zur Seuchen Bekämpfung dienen, sondern eher dem alten Forderungskatalog der Neoliberalen entsprechen, der seit Jahren immer schon wieder auf den Fahrplan kam. Dazu gehören der Zwölf-Stunden-Tag, die Erweiterung der Ladenöffnungszeiten und der Boom der Online-Nachhilfe (die faktisch eine Privatisierung des Bildungssystems ist). Die unkoordinierten Öffnungen und die damit einhergehende Zweite Welle der Seuche wird sicherstellen, dass alle diese Maßnahmen von Dauer sind.
Kapitalist*innen haben es trotz erheblicher Gewinneinbußen sehr gut geschafft, die instabile Situation für ihre politischen Interessen zu nutzen. Es muss nun darum gehen, dass auch wir als Sozialist*innen lernen, die Situation politisch zu nutzen und eine neue Welt zu gestalten, in der wir solidarisch mit Krisensituationen umgehen können, anstatt alle Probleme bei schlecht bezahlten „systemrelevanten Arbeiter*innen“ abzuladen.
Diese Frage wird sich um so mehr stellen, wenn es zu der zweiten Welle der Seuche kommt. Denn dann ist zu erwarten, dass die Wirtschaft keine Maßnahmen mehr duldet, die in ihre Geschäfte eingreifen. Dann wird sich zeigen, dass die geforderte „Normalität“ nichts anderes bedeutet als die Gewöhnung an den Anblick von überfüllten Leichenhallen. Marktkonformes Krankwerden…