Es gibt immer wieder so Skandale und wilde Aufreger, die ein paar Wochen durch die Medien stürmen und dann wieder vergessen sind. Wer kann sich noch erinnern an die kontroversen Sprüche des grünen Bürgermeisters von Tübingen (das war irgendwann dieses Jahr), der sich verdrängt und verletzt gefühlt hat davon, dass ihm die Menschen in der Bahnwerbung nicht weiß genug waren. Er hat dafür einiges an berechtigter Kritik bekommen. Ihm wurde Rassismus vorgeworfen, viele seiner Parteifreund*innen haben sich von ihm distanziert. Aber Boris Palmer hatte eine clevere Verteidigung parat. Die cleverste Verteidigung die es derzeit wohl gibt: Er hat klargestellt, dass er sich nur über sogenannte „Identitätspolitik“ beschwert hat, die die Bahn da angeblich macht.
Das Wort „Identitätspolitik“ ist eines der am wildesten diskutierten Themen innerhalb des politischen Intellektualismus das es derzeit gibt. Die Diskussion ist meistens, oder fast immer, verbunden mit der Feststellung: „Identitätspolitik ist schlecht und wir haben zu viel davon gemacht. Ganz besonders wir Linken.“
Aber ist es nicht ein bisschen komisch, dass wir es irgendwie geschafft haben, zu viel Identitätspolitik zu machen, obwohl das Wort bis vor wenigen Jahren noch gar niemand kannte, geschweige denn verwendet hat.
Aber was ist, denn nun diese Identitätspolitik, die da so kontrovers ist und so dringend diskutiert werden muss, dass wir uns als Jusos München entschieden haben unsere ganze Juli-Ausgabe des Blogs darauf zu verschwenden? Und was hat die Bahn damit zu tun?
Naja, bevor wir dazu kommen, wollen wir erst mal ein bisschen Vorbau machen. Einer der ältesten wenn nicht sogar der älteste philosophisch-theoretische Konflikt der Linken ist der Streit zwischen Idealismus und Materialismus. Der Streit ist sogar älter als unsere moderne politische Einteilung und reicht bis in die griechische Antike hinein. Damals haben sich Philosoph*innen (ja, es gab spätestens im ptolemäischen Ägypten auch historisch überlieferte Philosoph*innen) Gedanken gemacht darüber wie ein tugendhaftes Leben möglich ist und was die Tugenden sind die ein guter Herrscher und ein guter Untertan zu befolgen haben. Das war der Idealismus.
Nur gab es dabei einen nervigen Störenfried, der hieß Epikur und fand diese ganze Tugendhaftigkeit anstrengend. Er hat nicht an Götter, Übernatürliches und Tugenden geglaubt, nicht einmal an die Seele des Menschen. Stattdessen war die Wirklichkeit nur ein konfuses Zusammenspiel von Atomen und auch die scheinbare Seele des Menschen nichts weiter als das Ergebnis der Interaktionen von mikroskopischen Teilchen, die den Naturgesetzen unterliegen. Für Epikur gab es keine höhere Tugend als die Befriedigung von Bedürfnissen bzw. die Vermeidung von Leid. Das ist Materialismus.
Freilich, die idealistischen Philosoph*innen haben Epikur gehasst. Die materialistische Lehre wurde von oben unten mit Schmähschriften überzogen, aus der Bibliothek von Alexandria verbannt und gilt bis heute im Religionsunterricht als der Inbegriff von Egoismus, Gier und sonstigen bösen Dingen.
Trotzdem ist der Materialismus nie ausgestorben, gerade auch deswegen, weil er eine praktische Philosophie für Menschen ist, für die die Befriedigung grundlegender Bedürfnisse und Vermeidung von alltäglichem Leid eine Herausforderung ist. Das heißt: bei armen Leuten.
Etwa fast 3000 Jahre nach Epikur, nach dem antiken, christlichen und aufklärerischen Idealismus, hat dann sogar jemand seine Doktorarbeit über das Atommodel Epikurs geschrieben. Der Mann hieß Karl Marx und er hat uns den modernen Materialismusstreit in der Linken eingebrockt. Sein Ansatz die Welt mit materialistischem Blick zu erklären war ein Affront gegen viele andere Philosoph*innen, insbesondere in der sozialistischen Linken, die ihre sozialistischen Forderungen oft mit Tugendhaftigkeit und Idealismus erklärten.
Um dieses materialistische Weltbild zu bauen, machte Marx eine Trennung auf zwischen einer gesellschaftlichen Basis und ihrem Überbau.
Die Basis besteht aus der materiellen, ökonomischen und philosophischen Basis der Gesellschaft in der gearbeitet, verteilt und konsumiert wird. Der Überbau besteht aus all den geistigen Sphären in denen sich die Kultur, die Kunst, die Politik, die Religion, das Gesetz, die Tugend und auch der Marxismus selbst bewegen.
Kapitalismus und Sozialismus sind keine Fragen von moralischer Tugend im Überbau, sondern ökonomische Systeme in der Basis. Und Marx wurde selten müde seinen philosophischen Zeitgenoss*innen vorzuwerfen ihre Zeit mit verkopften Idealen zu verschwenden anstatt die ökonomischen Verhältnisse anzugehen.
An dieser Stelle fragen sich einige aufgeregte Leser*innen vielleicht, wo denn nun die umstrittene Identitätspolitik ins Spiel kommt. Ja, keine Sorge, die kommt noch. Aber wir müssen erst mal verstehen wo der Streit tief drin verwurzelt ist und warum der so wuschig macht.
Denn tatsächlich ist die obige Darstellung von Marx ziemlich vereinfachend. Marx war sich durchaus bewusst darüber, dass der Überbau einer Gesellschaft eine wichtige Rolle spielt. Im Überbau werden die ökonomischen Verhältnisse legitimiert und gestaltet. Im Gegenteil, der Kommunismus, das gesellschaftliche Fernziel von Karl Marx kennt nur noch den Überbau, weil ökonomische Konflikte nicht mehr existieren. Im marxschen Kommunismus ist der Frage nach dem richtigen Musikgenre eine zentrale gesellschaftliche Fragestellung.
Aber solange es ökonomische Zwangsverhältnisse und Ausbeutung in der Basis gibt, wird der Überbau auch immer diese Zwangsverhältnisse und die Ausbeutung widerspiegeln. Die Diskussion der Frage wie sich Basis und Überbau gegenseitig beeinflussen ist eine der wichtigsten Fragestellungen bei Marx und bei den Marxist*innen nach ihm.
Auf der einen Seite gibt es Leute, die sämtliche Kulturerzeugnisse des Kapitalismus von Grund auf ablehnen und auf der anderen Seite stehen Leute, die Kultur des Kapitalismus durchaus für transformierbar und gestaltbar oder zumindest unvermeidbar halten. Und was genau jetzt eigentlich zur Kultur des Kapitalismus gehört ist ein noch viel zerfransteres Thema. Welche Traditionen sind allgemeine natürliche menschliche Verhaltensweise? Welche sind ein Produkt der vorhergegangenen Gesellschaften. Und was ist überhaupt natürlich? Manche sind so weit gegangen ein komplettes Tabula rasa mit der gesamten menschlichen Kultur zu fordern und sogar umzusetzen (das sind dann oft die Leute von denen sich alle Linken heute völlig zurecht distanzieren.)
Um diese Frage in eine geeignetere Bahn zu leiten wurde in den 1960er Jahren das Konzept des Sozial Konstruktivismus erfunden an dem sich vor allem die Soziologen Peter L. Berger und Thomas Luckmann verdient gemacht haben. Das hatte weitreichende Folgen.
Für viele Menschen, die sich in der heutigen Debatte um Identitätspolitik bewegen, gilt die Konzeption des Sozial Konstruktivismus, als der Moment der Abkehr vom Materialismus und damit von Karl Marx. Es war der Beginn der Postmoderne, in der die durch ihre universellen ökonomischen Verhältnisse bestimmte weltweite Arbeiter*innenklasse aus der Öffentlichkeit verschwunden ist und Platz gemacht hat für einen Flickenteppich von Minderheiten und Kleingruppen. Dadurch ist die Kampfkraft der Linken, insbesondere im Westen, verschwunden und der Weg für den Neoliberalismus wurde geöffnet.
Tatsächlich war der Sozial Konstruktivismus zumindest bei seiner Begründung jedoch tief im Materialismus verwurzelt. So etwa lautet die klassische Definition eines sozialen Konstruktes:
- Zum jetzigen Stand der Dinge ist X als gegeben anzunehmen; X scheint unvermeidbar zu sein.
- X hätte nicht existieren müssen oder hätte nicht in der Form wie jetzt entstehen müssen. X, wie es momentan existiert, ist nicht von Natur aus gegeben, daher ist es auch nicht unvermeidbar.
Die Definition eines sozialen Konstruktes ist damit sehr weit gestreut. Die Annahme einer natürlichen, materiellen und naturwissenschaftlich begreifbaren Realität ist jedoch eine der Voraussetzungen dafür. So ist beispielsweise ein Atom kein soziales Konstrukt. Die Abbildung von Atomen die in Schulbücher gedruckt werden jedoch schon, weil Atome nicht (so) aussehen.
Für einen politisch relevanteren Kontext ist ein berühmtes Beispiel für ein soziales Konstrukt die Vorstellung von unterschiedlichen menschlichen Races. Es ist naturwissenschaftliche Realität, dass es Menschen mit unterschiedlichen körperlichen und genetischen Ausprägungen gibt. Die Einteilung der Menschen ist Kategorien wie schwarz, kaukasisch, asiatisch, usw. ist jedoch eine willkürliche und damit eine soziale Konstruktion.
Wichtig ist dabei auch zu verstehen, dass soziale Konstrukte alles andere als irreal sind. Soziale Konstrukte haben völlig beinharte gesellschaftliche Auswirkungen. Die Rassenlehre, egal wie wenig sie natürlich notwendig ist, war eine der wichtigsten Legitimationen für Sklaverei und Völkermord zurzeit des Kolonialismus und leider auch danach. Auch wenn Rassenkategorien aus den meisten modernen Gesetzestexten verbannt wurden, ist der Rassismus noch immer ein Bestandteil der sozialen Wirklichkeit oder von dem was Marx als gesellschaftlichen Überbau bezeichnet hätte.
Ein anderes heiß diskutiertes Thema ist Geschlecht. Während es eine naturwissenschaftliche Tatsache ist, dass Vulven und Penisse statistisch unter den Menschen verteilt sind und sich daraus auch unterschiedliche materielle (reproduktiv)-medizinische Zwänge ergeben, sind die Stereotype mit denen wir Penisträger*innen von Vulvabesitzer*innen unterscheiden sozial konstruiert. Um die Unterscheidung zu klar zu machen, wird dabei heute oft zwischen einem biologischen Geschlecht (engl. sex) und einem sozialen Geschlecht (engl. gender) unterschieden.
Zwar ist es richtig, dass vieles der Unterdrückung von Frauen* aus den biologischen unterschiedlichen Rollen beim Kindermachen stammt. Aber für da, die wenigsten Leute bevor sie treffen einen Genitalienabgleich machen, wird die Unterdrückung von Frauen* im sozialen Geschlecht weiterentwickelt und vertieft.
[Ja, mir ist klar, dass ich hier die Gendertheory bei weitem nicht komplett dargestellt habe, und Intersex- sowie Transpersonen ganz rausgelassen habe. Das tut mir leid. Ich werde darauf später zurückkommen.]
Das heißt, die Feststellung, dass etwas Sozial Konstruiert ist, heißt bei weitem nicht, dass es keinen Bezug zu einem materiellen geben kann UND nur, weil etwas materiell erkennbar ist, heißt es nicht, dass es nicht drum herum ein soziales Konstrukt geben kann. Aber es macht Sinn beide Begriffe zu trennen um zu verhindern, dass soziale Vorstellungen mit materialistischen Erkenntnissen vermischt werden und wir glauben die Geschlechter-/Racehierarchien seien eine natürliche Notwendigkeit.
ABER — und jetzt kommt’s — es gibt ein soziales Konstrukt, das noch viel konfuser ist als alle anderen. Das ganz urtümlich und gleichzeitig kultiviert ist: Die eigene Identität.
Für die, die sich daran stören, dass ich hier behaupte ihre Identität sei sozial Konstruiert. Bitte überprüft euch mal selbst in den oben genannten Definitionen eines sozialen Konstruktes und verzweifelt. Dabei ist gar nicht mal die materielle Tatsache gemeint, dass ihr geboren wurdet. Das ist ja eine naturwissenschaftliche Notwendigkeit für eine nachweisbare Existenz. Aber die ganzen Dinge die ihr auflistet, wenn ihr einen Satz beginnt mit: „Ich bin…“ das sind fast ausschließlich soziale Konstruktionen. „Ich bin Aise. Ich bin Juso. Ich bin Deutsche*r. Ich bin Star Wars Fan.“
Klar, es gibt Dinge, mit denen wir die materielle Form unseres Körpers beschreiben können: Körpergröße, Gesundheit, Eierstöcke. Wir können auch unsere ökonomische Verortung beschreiben: Einkommen, Vermögen…
Aber sind das die Dinge mit denen wir uns bei anderen Leuten vorstellen würden? In der Regel nicht. Wir würden uns anhand von sozialen Konstrukten eine Identität basteln. Und noch schlimmer: Oft basteln andere Leute eine Identität für uns.
Wir werden von Geburt an in sozial konstruierte Identitäten gepresst, ob es uns gefällt oder nicht. Die meisten davon tragen wir schon so lange so gewohnt mit uns herum, dass wir sie niemals auch für uns selbst nicht in Frage stellen würden. Das kann sehr schön für Menschen sein die zufrieden sind mit den Identitäten die ihnen zugeschoben werden. Es kann aber sehr fürchterlich sein, wenn diese Identitäten verbunden sind mit Unterdrückung und Diskriminierung. Das gilt besonders dann, wenn mensch keine Möglichkeit hat diese Identität abzulegen, weil sie einem wegen der Hautfarbe aufgedrückt wird.
Plump ausgedrückt heißt das, dass ein Mensch der als „weiß“ eingeordnet wird, bestimmte Erfahrungen nie machen wird, die eine „Schwarze“ täglich macht. Aber während es ein bisschen trivial ist festzustellen, dass „Weiße“ von der Diskriminierung gegen „Schwarze“ nicht betroffen sind, ist es eine noch viel schockierendere Feststellung, dass viele „Weiße“ sich rassistische Diskriminierung gar nicht vorstellen können. Wenn „Schwarze“ von ihren Erfahrungen berichten, werden diese oft einfach nicht geglaubt, oder die Erfahrung kleingeredet. Es finden allerlei Täter-Opfer-Umkehren statt. Und das ist von „Weißen“ nicht einmal böse gemeint. Wenn den Menschen jegliche Erfahrung von rassistischer Diskriminierung fehlt, dann fehlt ihnen leider auch die Fähigkeit, Erzählungen davon einzuordnen, wenn sie sich nicht sehr viel Zeit zum Zuhören und Verstehen nehmen.
Es ist ein erhebliches Problem, dass die Aufarbeitung und Hinterfragung der unterschiedlichen rassistischen Diskriminierungsformen fast vorwiegend von Menschen vorgenommen wurde, die davon gar nicht betroffen sind. Die Vorstellungen vieler Leute, auch vieler Linker darüber was Rassismus ist, wie er funktioniert und wie er sich äußert, ist oft verankert in den 50er Jahren und basiert auf einer Erzählung von Weißen über Weiße, die oft weniger mit Aufarbeitung als mit Rechtfertigung zu tun hat.
Das ist insbesondere dann der Fall, wenn Rassismus zu einer individuellen Verfehlung einzelner bösartiger Menschen wird und die über Jahrhunderte gewachsene gesellschaftliche Struktur, an der auch jene teilnehmen, die sich darüber gar nicht bewusst sind, geleugnet wird.
Diese fehlerhafte „Aufarbeitung“ von Rassismus hat zu dem geführt was in den USA zynisch als die „Racism is over -90s“ bezeichnet wird. Die 1990er Jahre waren ein euphorisches Jahrzehnt in dem Rassismus und die Debatte darüber scheinbar der Vergangenheit angehörte, während überall auf der Welt antirassistische Errungenschaften zurückgefahren wurden und die rechtspopulistischen Bewegungen gegründet wurden, die den Weg für den aktuellen globalen Rechtsruck geebnet haben.
Zum Glück gibt es ein Mittel gegen die Unsichtbarwerdung von Rassismus – und damit sind wir endlich bei: Identitätspolitik.
Das Wort ist fast ein bisschen tautologisch. Identitätspolitik ist eine Politik, die sich an politischen Identitäten festmacht und politische Identitäten sind solche Identitäten die Identitätspolitik betreiben.
Identitätspolitik ist alles andere als neu und wurde nicht erst irgendwann erfunden. Die Menschen haben immer schon Identitätspolitik betrieben, das Wort zur Beschreibung von Identitätspolitik wurde nur erst kürzlich erfunden.
[Hier ein Gag: Das Stattfinden von Identitätspolitik ist Teil der beobachtbaren Realität. Die Theorie über Identitätspolitik ist ein soziales Konstrukt]
Identitätspolitik findet im Grunde immer dann statt, wenn sich Menschen aus irgendeinem Grund mit Menschen solidarisieren, die sie vielleicht noch nie getroffen haben, ganz einfach deswegen, weil die auch XYZ sind und auch ZYX erfahren haben.
Nicht alle Identitätspolitik ist fortschrittlich oder gerecht. Ganz im Gegenteil. Der Rassenwahn der Nazis in Deutschland war sehr identitätspolitisch, die moderne Identitäre Bewegung heißt nicht ohne Grund so wie sie heißt und auf die Probleme mit Nerd-Culture komm ich auch noch einmal zu sprechen.
Identitätspolitik kann aber auch sehr progressiv sein. Etwa dann, wenn sich diskriminierte Minderheiten untereinander vernetzen, ihre Erfahrungen austauschen, beginnen ihre eigene Geschichte aufzuschreiben und einfordern, dass ihnen die Mehrheitsgesellschaft, die sie so lange ignoriert hat endlich zuhört.
Ich habe oben ausgiebig über das Beispiel von „schwarzen“ Menschen gesprochen. Durch die konsequente Anwendung von Identitätspolitik ist es in den USA gelungen, Themen wie rassistische Polizeigewalt, die Nachwirkungen von Segregationspolitik (auch in den Nordstaaten) und die Aneignung von Blackculture, speziell durch die Musikindustrie zu landesweiten Themen zu machen.
Andere Menschengruppen, wie zum Beispiel die unterschiedlichen Buchstaben von LBTIQA+, die zwar schon immer existiert haben, konnten erst in jüngerer Zeit durch Vernetzung und Identitätspolitik die Sprache finden um über ihre Erfahrungen zu sprechen und die Welt davon überzeugen, dass es sie gibt.
Die Frauenbeauftragte der Jusos, die Frauenquote und die Frauenvernetzungstreffen sind identitätspolitische Maßnahmen.
Und letztlich sollte nicht vergessen werden, dass der Zionismus eine identitätspolitische Reaktion auf die Jahrtausende lange Verfolgung der Jüd*innen in Europa war.
Aber was sagt jetzt eigentlich Karl Marx zu all diesen Wunderdingen die Identitätspolitik da so vollbracht hat und immer noch vollbringt?
Naja, Marx ist ja leider tot, deswegen kann man ihn nicht mehr dazu fragen. Aber wenn man der aktuellen Debatte der marxistischen Linken folgt, dann hätte er das alles gehasst wie Epikur die Tugendhaftigkeit.
Und dafür gibt es einige sehr gute Anhaltspunkte. Während der ursprüngliche Sozial Konstruktivismus noch klar versucht hat eine objektivierbare Realität als Grundlage einzubauen, hat die postmoderne Identitätspolitik diesen Pfad völlig verlassen. Aber ab dem Moment wo die eigene Identität gefangen ist im Spinnennetz von sozialen Identitäten und die Wahrnehmung der Welt eine Folge der eigenen sozialen Verortung ist, dann ist die Welt nicht mehr objektivierbar, dann zerbeutelt es den ganzen Materialismus, dann findet der gesellschaftliche Kampf nur noch im Überbau statt.
Und das ist auch eine Beobachtung, die viele Leser*innen wohl sogar als offensichtlich ansehen. Tatsächlich haben identitätspolitische Kämpfe in den letzten Jahren die öffentlichen Medien bestimmt, tatsächlich tobt seit Jahren die neoliberale Politik durch die Parlamente während linke sich scheinbar an den Outfits von Videospielcharakteren abarbeiten. Bei vielen der progressiven Identitätspolitischen Bewegungen stellen sich kapitalistische Unternehmen an die Spitze und geben sich als Menschenrechtler*innen aus. Die Musikindustrie ist berühmt dafür, aber auch Mastercard geht zum Christopher Street Day. Es ist auch zu beobachten, dass sich die Stimmung bei vielen Identitätspolitischen Gruppierungen in den letzten Jahren zum säuerlichen gewendet hat. Immer mehr Beschwerden darüber das emanzipatorische Ideen „autoritär gewendet“ werden. Gleichzeitig tauchen Aussagen auf, in denen Kritik an selbst den schlimmsten Traditionen der Welt (z.B. weibliche Genitalverstümmelung) als rassistisch abgetan wird.
Und die durch ihre ökonomischen Zwänge definierte Arbeiter*innenklasse, die Marx zur weltweiten Vereinigung aufgerufen hat, ist nirgendwo zu sehen. Ihre Existenz wird von vielen sogar geleugnet. „Klassische Arbeiter*innen gibt’s doch gar nicht mehr.“
Es gibt also sehr viele Gründe zu sagen: „Identitätspolitik ist schlecht und wir haben zu viel davongemacht. Ganz besonders wir Linken.“