Das Kapital der Influencer*innen

Wenn die eigenen 4-Wände als Drehort dienen und Fremde zur wichtigsten Ressource werden

Sie werden auf der Straße erkannt und um Selfies gebeten, sie füllen ganze Kongresshallen mit kreischenden Fans und mit ihren Outfits setzen sie Trends. Die Rede ist nicht von Sänger*innen, Schauspieler*innen oder Sportler*innen, sondern von Influencer*innen – den Promis der späten Millennials und der Generation Z. Von vielen müde belächelt, als Sinnbild der digitalen Selbstdarstellung beschimpft, für ihre Rolle in der vermeintlich authentischen und doch Kommerz-orientierten Werbemaschinerie kritisiert und doch folgen ihnen die Massen. Auf Instagram, YouTube, Snapchat und TikTok nehmen sie uns mit in ihre Welt. 40% der deutschen Bevölkerung nutzen beispielsweise das Videoportal YouTube und zusammen mit Instagram, der Bilder-Plattform, die in Deutschland von 20 Millionen Menschen genutzt wird, sind dies für Influencer*innen beliebte Schauplätze für ihren Kampf um Aufmerksamkeit. Sie führen uns, die ihnen vollkommen Fremden hinter den Likes und Klicks, durch ihre Apartments, geben uns Einblicke in ihre Essenspläne und Fitnessroutinen und fahren mit uns in den Urlaub. Wir lernen sie kennen, treffen ihre Freund*innen, Partner*innen und Familien. Wir wissen, was sie am Wochenende unternommen haben, dass sie sich vor zwei Wochen verlobt haben und welche Musik sie mögen. Damit wissen wir von ihnen mehr als von so manchen Mitschüler*innen oder Kolleg*innen. Sie geben uns Einblicke in ihr Leben und wir honorieren das mit einer treuen Gefolgschaft, Likes und Kommentaren, denn damit verdienen sie ihr Geld. Ihre privaten Daten und ihre Followerschaft sind das zentrale Kapital der Blogger*innen geworden, die ihren Unterhalt mit Affiliate Links, Rabattcodes und Werbekampagnen bestreiten.

Dass Kapital in seinen unterschiedlichsten Facetten unseren Erfolg und unsere Stellung offline determiniert ist eindeutig, doch auch online ist verschiedenes Kapital Gold wert. Der französische Soziologe Pierre Bourdieu hat für den Kampf in gesellschaftlichen Feldern die Unterscheidung von vier Kapitalsorten etabliert: ökonomisches, soziales, kulturelles und symbolisches. Kapital stellt in diesem Sinne die Gesamtheit gesellschaftlich wertvoller und relevanter Handlungsressourcen dar. Welches Kapital als wertvoll und relevant betrachtet werden kann, wird von den Feldstrukturen festgelegt.

Unsere finanziellen und materiellen Ressourcen als auch die marxschen Produktionsmittel bilden für Bourdieu das ökonomische Kapital. Es kann sowohl als das Produkt akkumulierter Arbeit entstehen, als auch vererbt, verschenkt, oder gewaltsam oder zufällig angeeignet werden. Kulturelles Kapital umfasst hingegen dingliche Gegenstände wie Bücher oder Kunstwerke, die durch einen Verkauf in ökonomisches Kapital umgewandelt werden können. Aber auch Bildung, Wissen, Talente sowie Bildungsabschlüsse und Titel gelten als kulturelles Kapital. Diese können nur durch zeitintensive Bemühungen individuell erlangt werden und stellen damit das inkorporierte kulturelle Kapital dar. Durch die Institutionalisierung kann kulturelles Kapital dauerhaft gesichert werden. Außerdem gewinnt es dadurch an Legitimität nach außen. Dies ist essentiell dafür, um aus kulturellem Kapital finanziellen Profit zu erzielen. Zertifizierte Abschlüsse bieten beispielsweise dem Individuum Chancen auf einen beruflichen Aufstieg und damit einhergehend auf eine Steigerung des ökonomischen sowie symbolischen Kapitals. Beziehungen, Netzwerke und Mitgliedschaften fallen unter den Begriff des sozialen Kapitals. Der Wert besteht hierin auf Unterstützung und Informationen zurückgreifen zu können. Dieses Kapital reproduziert sich durch die Inanspruchnahme der Beziehungen. Folglich muss dieses Kapital für seinen Fortbestand gepflegt werden. Unsere sozialen Netzwerke ermöglichen es uns, kulturelles und ökonomisches Kapital zu sichern und zu vermehren. Als Folge beziehungsweise Verfestigung der bereits genannten Kapitalformen ergibt sich das symbolische Kapital, welches als Prestige beziehungsweise die gesellschaftliche Stellung einer Person verstanden werden kann.

Unser Kapital eröffnet uns bestimmte Handlungsmöglichkeiten und bildet damit gleichzeitig einen notwendigen Bestandteil sozialen Handelns. Daher kann nach Bourdieu auch jede, für soziales Handeln notwendige Ressource als Kapital akkumuliert werden. Im Hinblick auf Social Media und Influencer*innen wird eines sofort deutlich: wir als User*innen werden zum Dreh- und Angelpunkt, denn umso mehr Menschen Influencer*innen folgen und ihre Videos und Fotos sehen, liken und kommentieren, desto mehr klingeln die Kassen. Influencer Marketing ist fester Bestandteil des Online Marketings geworden. Influencer*innen schließen dabei mit verschiedenen Unternehmen, Produktherstellern und Dienstleistern Verträge ab, die festlegen, wie und teilweise auch wann die Blogger*innen die Produkte der Firmen auf ihren Social Media Kanälen bewerben sollen. Die Bezahlung die Influencer*innen für das Bewerben eines Produktes in einem Video, die Präsentation eines Kleidungsstückes in einem Foto oder das Teilen von Rabattcodes erhalten, richtet sich danach, wie viele kauffreudige Follower*innen die jeweiligen Influencer*innen auf ihren Kanälen vorzuweisen haben und wie die Produkte beworben werden sollen. Manche erhalten daher „lediglich“ ein paar Hundert Euro für eine Werbekampagne während die super Erfolgreichen der Branche schon auch mal über 30.000€ für einen einzigen Beitrag erhalten. Das Netzwerk, das sie mit ihrer Community als soziales Kapital aufgebaut haben, lässt sich damit in ökonomisches Kapital im Sinne von lukrativen Werbedeals transformieren. Denn ihr soziales Kapital in Form von hohen Viewer*innen-Zahlen erhöht gleichzeitig ihr Ansehen in der Community und kann als Signal für große Beliebtheit und Relevanz gedeutet werden. Dieses symbolische Kapital macht weitere Nutzer*innen der Internetplattformen, als auch potentielle neue Werbepartner*innen auf sie aufmerksam. Welche Größe einer Fanbase als relevant erachtet werden kann, hängt von der Zielgruppe der Werbetreibenden ab. Denn in Deutschland sind auch so genannte Micro-Influencer*innen heiß begehrt und zu diesen zählt man bereits mit „nur“ 5000 Follower*innen. Aber hey, wer hat sie nicht, die 5000 Freund*innen und Bekannten, die er/sie mal so eben für einen Gefallen anhauen kann. Der Gewinn, den Influencer*innen aus den Werbedeals davontragen, kann wiederum in besseres Equipment und die Generierung attraktiveren Contents investiert werden. Da kann dann schon mal aus einer Apartment-Tour die Führung durch die neuerstandene Luxus-Immobilie werden, oder der Urlaub auf den Seychellen dokumentiert werden. Dies zieht umgekehrt wieder weitere Follower*innen an. Diese sind durch ihr Interesse an Luxusgütern und Marken womöglich erst auf die aufstrebenden Influencer*innen aufmerksam geworden und bilden damit auch wieder eine neue Zielgruppe, die kaufkräftiger ist als die vorherige. Durch ihre neuen Netzwerke werden die Influencer*innen interessanter für neue Werbepartner*innen und die ihnen angebotenen Bezahlung steigt.

Dies könnte erklären, warum es manchen Blogger*innen gelingt eine so große Reichweite zu erzielen. Doch wenn Influencer*innen selbst gefragt werden was sie so beliebt und erfolgreich macht, scheinen sich alle einig zu sein: ihre „Authentizität“. Inwieweit ein Post tatsächlich noch als authentisch gelten kann, wenn für einen Beitrag 100 Fotos geschossen werden, um daraus eines auszuwählen oder ein Video fünfmal gedreht wird, bis es locker und flüssig rüberkommt und im Nachhinein eh noch alles per Photoshop nachbearbeitet wird, ist fraglich. Zudem zeigen uns Influencer*innen auch nicht alles, sondern nur die Ausschnitte ihres Lebens, die sie teilen möchte und diese dazu noch beschönigt. Das Leben als Influencer*in bedeutet die Mittel der digitalen Selbstdarstellung bis zur Perfektion zu beherrschen. Die Frage wieviel Narzissmus hierbei dahinter steht, lassen wir lieber unkommentiert. Und dennoch, um als Blogger*in erfolgreich zu sein wird das private Leben verkauft. Das Smartphone wird zum ständigen Begleiter und alles wird dokumentiert und geteilt, angefangen von der Frühstücks-Smoothie-Bowl bis zum Sofa-Kauf bei Ikea. Influencer-Marketing lebt genau von dieser vermeintlichen Authentizität, der Vertrautheit und Nähe der Influencer*innen zu ihrer Community und den privaten Einblicken in komplett fremde Leben, die unserem dennoch ähnlicher, persönlicher und ehrlicher erscheinen als das der unbekannten Werbemodels auf Plakaten. Denn schließlich erwarten die Follower*innen auch genau diese Einblicke in die Leben ihrer neuen Freunde und Vorbilder. Wir wollen schließlich unterhalten werden und als soziales Kapital gilt es die Beziehung zu uns als Viewer*innen zu pflegen. Wer nicht postet gerät in der schnelllebigen Welt des digitalen Zeitalters rasch in Vergessenheit. Wer als Influencer*in ihr/sein Geld verdienen möchte, muss die eigene Fanbase aufrechterhalten und ist damit gezwungen ständig neuen Content zu produzieren. Denn wenn wir nur Werbung sehen wollen würden, könnten wir auch einfach wieder zurück zum klassischen Fernsehen übergehen.

Auch wenn Influencer*innen Extrembeispiele darstellen, an denen besonders deutlich wird wie sich im digitalen Raum Kapital bemerkbar macht, gilt es zu berücksichtigen, dass auch für uns die digitale Identität und unser virtuelles Netzwerk zur Ressource werden. Denn beispielsweise für unsere Erfolgschancen auf dem Arbeitsmarkt gewinnen Plattformen wie Xing oder LinkedIn und unser daraus ersichtliches kulturelles, soziales und symbolisches Kapital an Bedeutung. Welche Rolle unser virtuelles Kapital zukünftig noch einnehmen wird, wird sich zeigen.

Quellen und weiterführende Literatur für Interessierte:

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Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA Verlag.

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Elsberg, Marc (2014): Zero – Sie wissen was du tust. Blanvalet: München.

Fröhlich, Gerhard/ Boike, Rehbein (Hrsg.)(2014): Bourdieu Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler.

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Rehbein, Boike (2011): Die Soziologie Pierre Bourdieus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft mbH.

Rössler, Beate (2001): Der Wert des Privaten. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

Reitz, Michael (26.11.2017): Noch feinere Unterschiede? -Das Denken Pierre Bourdieus im 21. Jahrhundert. Deutschlandfunk. Unter: https://www.deutschlandfunk.de/das-denken-pierre-bourdieus-im-21-jahrhundert-noch-feinere.1184.de.html?dram:article_id=398990

Schwär, Hannah (01.02.2018): Studie: So viel verdienen Influencer wirklich mit einem einzigen Post. Business Insider. Unter: https://www.businessinsider.de/karriere/arbeitsleben/studie-so-ticken-influencer-2018-1/

Yvi-Kej Media (21.04.2020): Wie verdienen Influencer eigentlich ihr Geld?. Unter: https://yvi-kej.de/wie-verdienen-influencer-eigentlich-ihr-geld/