Pro/Kontra: Jubeln auf dem Balkon

Klatschen auf dem Balkon – das ist weder schön, noch gut. Höhnisch hallt der Applaus durch die leeren Straßenschluchten Münchens.

Er sagt: „Danke, dass du dich abrackerst. In einem Beruf, der schlecht bezahlt ist und die wenigsten machen wollen.“. Er sagt: „Ich bin so froh, dass ich nicht das machen muss, was du gerade und wahrscheinlich schon dein ganzes Leben machst.“. Er sagt: „Wie schön sich das doch anhört, wenn wir jetzt alle klatschen. Aber nach einer Minute wende ich mich ab und denke, dass ich damit alles getan habe, was ich tun kann. 

Der Applaus ist ein Ausweg aus dem Dilemma, dass das Gewissen und die aktuelle Situation einem gerade aufzeigt. Es ist ein vermeintliches zu – aber tatsächlich ein abwenden.

Wird es eine Veränderung nach der Krise geben? Bekommen die systemrelevanten Berufe endlich mehr Geld? Werden die Arbeitsbedingungen endlich verbessert? Wird es eine Reform des Gesundheitssystems geben? Die Problematiken eines kapitalistischen Systems zeigen sich doch gerade wunderbar.

Aber um etwas zu verändern, braucht man die revolutionäre Masse. Braucht man die Menschen, die sich als solidarisch begreifen und den Wert jeder*jedes Einzelnen anerkennen. Doch nach der Krise ist vor der Krise. Wir werden erst Mal die Wirtschaft retten müssen, da sind keine hohen Löhne drin, da sollte man keine unsicheren, alles verändernden Reformen anpacken…

Und außerdem waren wir doch alle dankbar. Wir haben geklatscht, manchmal auch gejubelt. Und das nicht nur einmal, sondern mindestens einmal mehr!

Klatschen auf dem Balkon – das ist weder schön, noch gut. Höhnisch hallt der Applaus durch die leeren Straßenschluchten Münchens.

Sozialistischer Engel oder Anwalt des Teufels? Was meinst Du?

Der tägliche Applaus für Pflegekräfte, Supermarkt-MitarbeiterInnen und Co. verbessert für sie nicht ihre derzeitige Arbeitssituation, erhöht nicht automatisch ihre Gehälter und macht sie nicht immun für eine Infektion mit Corona und dennoch sollten wir alle mitklatschen, denn der Applaus ist ein Zeichen der Dankbarkeit und der Solidarität und damit ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Anerkennung ist wichtig und richtig. Früher applaudierten Passagiere der Flugzeugcrew nach einer geglückten Landung. Finden viele mittlerweile peinlich, ist doch aber eigentlich schade. In den Zeiten von Corona gehen Videos klatschender Menschen um die Welt, mit dem Aufruf sich an dieser Solidaritätsbekundung zu beteiligen. Applaus ist ein Zeichen der Wertschätzung und das ist doch eigentlich genau das was sich viele in der heutigen Zeit wieder mehr wünschen würden, wenn wir uns über eine verrohte, unfreundliche und unsolidarische Gesellschaft beklagen.

Das Klatschen bringt jedoch nicht alle zum Jubeln. Häufig vorgebrachte Kritikpunkte sind, dass es eine scheinheilige Geste und wenig zielführend ist. Dass wir die Beschäftigungsverhältnisse vieler sonst vernachlässigter Berufsgruppen nicht mit Applaus, sondern nur mit politischen Entscheidungen verbessern können, stimmt natürlich. Doch der Applaus ist ein individuelles Dankeschön. Von den daheim Sitzenden, die das Gefühl haben in diesen Momenten der Krise hilflos zu sein, die sich eben nicht „System relevant“ fühlen. An die, die in unseren Augen das Heldenhafte vollbringen, die für uns trotz allem weiterhin volle Power geben. Dabei ist dieses Argument der Systemrelevanz sowieso sehr fragwürdig, denn was macht den einen Beruf relevanter für unser System als einen anderen? Vielleicht formulieren wir es also besser um, der Applaus gleicht einer persönlichen Danksagung von Mensch zu Mensch, eine Verbindung zwischen Fremden, eine Solidaritätsbekundung zwischen Mitmenschen.

Der Applaus ist aber nicht nur an die HelferInnen gerichtet. Er ist auch eine Art der Kommunikation geworden. Social distancing verlangt vielen von uns so einiges ab. Nicht alle haben das Glück mit ihren Liebsten die Ausgangssperren in einem Haus im Grünen verbringen zu können. Für manche Alleinlebende im Home Office wird ein wöchentlicher Ausflug zum Supermarkt um die Ecke schon mal zum Highlight der Woche. Doch dabei steckt so ein bisschen Herdentier in uns allen. Auch wenn uns für gewöhnlich die Schlange vor dem Club und das Gedränge in der U-Bahn nerven, wollen wir in der aktuellen Situation einfach wissen, dass die Herde noch da ist, dass wir nicht alleine sind. Denn gerade in der jetzigen Zeit dürfen wir nicht vergessen, dass es auch Menschen ohne soziales Netzwerk gibt. Die Beschränkungen treffen vor allem die Alleinlebenden, BewohnerInnen von Pflegeinrichtungen, Geflüchtete, Menschen im Strafvollzug, Wohnungslose und alle ohne Zugang zur digitalen Kommunikation. Selbst im technologisierten Deutschland haben immer noch 5% aller Privathaushalte keinen Internet-Zugang. Denn wer aktuell mit niemandem auf dem Balkon zusammensitzen kann, keine 10 WhatsApp-Nachrichten pro Tag beantworten kann oder keine Möglichkeit hat an Video-Konferenzen teilzunehmen, der/ die vermisst vielleicht ein Gefühl von Zugehörigkeit. Gerade für diese Menschen ist der Applaus eine Vergewisserung nicht alleine zu sein, erzeugt für sie ein Gefühl der Gemeinsamkeit und wird dadurch zu einem Symbol des Zusammenhalts.

Außerdem ist es mit Verlaub einfach nur verdammt unhöflich auf eine gutgemeinte Geste mit „die könnt ihr euch in den Arsch schieben“ zu reagieren. Bisher scheint der Applaus eh noch nicht so anzuschwellen, dass er durch ganz Deutschland schallt. Die Wahrscheinlichkeit, dass er einen also tatsächlich tangiert, ist gering. Und wer in den eigenen Augen Pech mit den NachbarInnen hat, weil sie jubelnd und klatschend jeden Abend auf dem Balkon stehen, kann ja einfach die Fenster schließen und sich am besten dabei fragen, ob er/sie sich nicht doch lieber dazu gesellen möchte – wäre auch mal eine gute Gelegenheit die Leute besser kennenzulernen.

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