Postengeschacher in Brüssel

„Ursula wer?“ werden sich nach der Brüsseler Wahl zur Kommissionspräsidentin viele Europäer*innen gefragt haben. Leider völlig berechtigt. Die langjährige Kabinettsgefährtin und Ministerallzweckwaffe (3 Ministerien in 3 Kabinetten, das ist Fachwissen) von Merkel hat sich in ihrer langen Zeit in der Bundesregierung nie als große Europapolitikerin hervorgetan, dabei erblickte VDL wie sie mittlerweile gerne in den Medien beschrieben wird, sogar in Brüssel das Licht der Welt. Diese persönliche europäische Vita wurde sie auch nicht müde zu betonen – musste sie ja auch. Sie war ja selber derart von Ihrer Ernennung zur Kandidatin überrascht, dass sie keinerlei eigenes ausgefeiltes Programm hatte. Da muss man dann halt auf persönliche Anekdoten zurückgreifen. 

Wie dem auch sei, nun ist, wie hierzulande anscheinend sehnlichst erwartet wurde – eine deutsche (endlich!) zur Chefin der EU gemacht worden. Und dann auch noch eine Frau! Das ist so progressiv, da können wir Deutschen uns wieder auf die Schultern klopfen, und niemand muss uns daran erinnern , dass der Vorschlag zu dieser Personalie aus Frankreich kam und es ein ziemliches Muskelspiel war, auch aus Deutschland, diese Kommissionsmannschaft so durchzusetzen. Deshalb muss man leider auch davon sprechen, dass VDL zur Kommissionschefin gemacht wurde. „Gewählt“ geht bei diesem Prozedere nämlich nur schwerlich über die Lippen, selbst wenn sie am Ende die Mehrheit der Stimmen im Europäischen Parlament bekam (wenn auch denkbar knapp!). Sie wurde von Macron quasi aus dem Hut gezaubert, als sich die Staats- und Regierungschef*innen der EU-28 partout nicht auf eine*n Kandidat*in einigen konnten. Denn keine*r der Spitzenkandidat*innen bekam die volle Unterstützung des Europäischen Rates. Auch nicht Manfred Weber, der als Spitzenkandidat der EVP-Fraktion der Politiker mit dem stärksten Führungsanspruch war und der sichtlich unter seiner Nichtberücksichtigung zu leiden hatte. 

Nun gibt es einiges an diesem undurchsichtigen Prozess zu bemängeln. Erstens wurde hier dem Europäischen Parlament der deutsche Spitzenkandidat*innenprozess übergestülpt, ohne zu berücksichtigen, dass dieses Verfahren bei vielen unserer Nachbar*innen gar nicht bekannt ist. Zweitens haben es die europäischen Parteien, insbesondere die EVP, versäumt, noch vor dem Wahlkampf die Akzeptanz Ihrer Kandidat*innen bei den Staats- und Regierungschef*innen abzuklopfen. Drittens kann man direkt anschließend kritisieren, dass die Zustimmung von Merkel und ihren Kolleg*innen überhaupt notwendig ist. 

Eine Direktwahl des Kommissionspräsident*in vom europäischen Volke würde dessen Rolle stärken und alle bislang genannten Probleme im Handstreich lösen. Viertens ist aber noch anzumerken, dass es das Europäische Parlament nicht geschafft hat, sich auf ein*en Kandidat*in zu einigen. Damit hat es den Ball wiederum an Macron, Merkel etc. weitergegeben. 

Und trotz all dieser Widrigkeiten ist es am Ende auf eine Deutsche hinausgelaufen (gut, EZB-Chefin wird eine Französin). Daher sollten wir hier nochmal einen Blick auf die Rolle Deutschlands und die Debatte in Deutschland dazu werfen. 

In den deutschen Medien gab es ja kurz nach den Europawahlen anscheinend nur eine Frage: Welche der beiden europäischen Top-Positionen bekommt Deutschland? Darf mit Jens Weidmann endlich ein waschechter Bundesbanker die deutschen Sparbücher von höchster Stelle aus beschützen? Oder kann nun endlich ein deutscher Kommissionschef den ganzen Süd-und Osteuropäern für Ihre Verfehlungen die Leviten lesen? Es war eine durchaus vor teutonischer Überheblichkeit strotzende Diskussion. Es ging nur noch darum, welchen der beiden Posten Merkel in Brüssel durchsetzen konnte, dass beides nicht möglich wäre war aber auch den größten Patriot*innen klar. In Brüssel sah diese Debatte etwas anders aus, wie es ein Brüssel-Insider beschreibt: „Die von den deutschen Medien kolportierte Entscheidung zwischen der Positionierung von Weidmann an der Spitze der EZB oder von Weber als Chef der Kommission war hier kein Thema. Der innereuropäische Widerstand gegen Weidmann als Chefnotenbanker war so groß, Deutschland hätte einen viel zu hohen politischen Preis zahlen müssen um ihn durchzusetzen.“ Und folgerichtig spielte die Personalie Weidmann in der heißen Phase der Postenrochade auch keine Rolle. Dennoch auch interessant zu sehen, wie selbstverständlich in Deutschland mittlerweile Anspruch auf die höchsten Ämter in der EU erhoben wird. Dabei wird gerne übersehen, dass Deutschland in der EU bereits sehr prominent vertreten ist: Der Generalsekretär der Kommission (okay, der muss nun gehen weil VDL auch Deutsche ist), der Generalsekretär des Europäischen Parlamentes, die Generalsekretärin des Europäischen Auswärtigen Dienstes, der Fraktionschef der EVP, Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen, Ko-Fraktionsschef der Europäischen Linken, der Präsident des Europäischen Rechnungshofs, der Präsident der Europäischen Investitionsbank: Alles Deutsche! Und hier wurden nur einige genannt. Deutschland hat es geschafft, eine sehr hohe Zahl an hochrangigen Beamt*innenpositionen in Brüssel mit Landsleuten zu besetzen. Das war nicht immer so, früher ging die deutsche Regierung in Europa zurückhaltender vor. Doch diese Zurückhaltung ist einem selbstbewussten Auftreten gewichen, ganz nach dem Motto: Europa (und im Zweifel die Welt) braucht deutsche Führung! Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zu „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“. Mit Blick auf die äußerst komplexen Probleme der Zukunft – Klimawandel, Migration, Sicherheit, Welthandel – wäre es eventuell geboten, wenn die deutsche Regierung sich wieder mehr in Zurückhaltung übt, anderen Ländern den Vortritt lässt und dadurch in Europa die Befürchtungen der kleineren Mitgliedsländer, von den großen einfach mitgezerrt zu werden, zerstreut. Damit dann wiederum das Motto der Europäischen Union in den Vordergrund tritt: In Vielfalt geeint. 

Stefan ist übel