Denkanstoß zum neuen Sozialstaatskonzept der SPD

Die SPD führt wieder eine Debatte über den Sozialstaat und schon steigen die Umfragewerte und die Partei wird wieder anders wahrgenommen. Das Papier der SPD findet man hier: https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/neuer-sozialstaat/10/02/2019/

Unser Vorsitzender Christian Köning hat sich damit auseinandergesetzt und möchte mit diesem Beitrag das Papier der SPD selbst erkunden und bewerten und gleichzeitig Schlüsse für die weitere Diskussion bei den Jusos ziehen.

Das SPD-Papier beschränkt sich auf die Bereiche Arbeitsmarkt, Kindergrundsicherung und den Ersatz von Hartz IV durch das Bürgergeld. Antworten für die Bereiche Alterssicherung, Gesundheit, Pflege und Wohngeld sollen nach Selbsterklärung des Parteivorstandes zeitnah folgen. Das verabschiedete Papier will eine parteiintern immer wieder lodernde Debatte um die politische Bewertung von Hartz IV und den Folgen endgültig abschließen und die SPD – ganz im Sinne des Erneuerungsprozesses, als dessen erstes greifbares inhaltliche Ergebnis das Papier gelten könnte – neu positionieren. Nach Auffassung der meisten Kommentare in den Medien und der politischen Konkurrenz rückt es die SPD nach links.

1) Zusammenfassung des Konzepts der SPD

Gesellschaftliche Analyse bzw. Anlass

Die SPD positioniert sich im Sozialstaatsverständnis dezidiert neu: “Wir wollen den Sozialstaat aus der Perspektive derjenigen gestalten, die ihn brauchen. Und nicht aus der Perspektive derjenigen, die ihn missbrauchen”; “Unterstützung darf niemals als Stigma empfunden werden”; “Der Sozialstaat muss Abstiegsängsten entgegenwirken und neue Aufstiege ermöglichen” – all das sind Aussagen, die ich von der Sozialdemokratie lange vermisst habe. Die SPD sagt der Individualisierung von Arbeitslosigkeit und Armut neu den Kampf an und stellt sich auf Seiten der BürgerInnen, diese haben Ansprüche auf soziale Rechte, sie sind nicht mehr in der “Holschuld” und sollen keine „BittstellerInnen“ mehr sein.

Gleichzeitig verknüpft die SPD die Sozialstaatsdiskussion mit dem Wandel der Arbeitswelt und zeigt auf, dass neue Absicherungsformen notwendig sind. Sie stellt sich der Diskussionen um das bedingungslose Grundeinkommen und positioniert sich für ein “Recht auf Arbeit” und gegen Versuche, der Staat könne sich von der gesellschaftlichen Verantwortung freikaufen, jede und jeden in und über Arbeit in die Solidargemeinschaft zu integrieren. Dafür, so wird erkannt, ist aber aufgrund tiefgreifender Veränderungen ein Umsteuern erforderlich. Sozialpartnerschaft und Tarifbindung wie auch generell das Gelten von Rechten für ArbeitnehmerInnen stellen keine Reformhindernisse mehr dar. Entgrenzung, Flexibilisierung und Ausdifferenzierung von Arbeitsverhältnissen (Selbstständige, Werkverträge, “atypische Beschäftigungsformen”) werden als Phänomene zur Kenntnis genommen und die aus diesen entstehenden Probleme auch tatsächlich problematisiert. Man ist weit weg vom schröderschen Stolz den europaweit größten Niedriglohnsektor geschaffen zu haben oder dem Loblied auf weniger starre und innovative Beschäftigungsformen, sondern macht sich an dessen Eindämmung.

I. Umgestaltung der Arbeitsmarktpolitik

a) Arbeitsverständnis

Für die SPD ist das Bekenntnis zur Sozialpartnerschaft (partnerschaftliche Aushandlung von ArbeitgeberInnenvertretungen und ArbeitnehmerInnenvertretungen) sehr wichtig. Gleichzeitig gibt es (wieder) ein Verständnis dafür, dass der Staat Rahmenbedingungen für diese Partnerschaft setzt. Hier will die SPD (wieder) zu Gunsten der Sozialpartnerschaft eingreifen. Eine Neudefinition des ArbeitnehmerInnenstatus wird angestrebt; man will die Tarifbindung stärken und mehr Mitbestimmungsrechte auch gesetzlich durchsetzen. Die Forderungen bleiben hier Absichtserklärungen, genauso wie beim Mindestlohn, der auf 12 Euro angehoben werden soll. Konkret ist das Vorhaben der Einführung eines Tariftreuegesetzes auf Bundesebene.

b) Arbeitszeitdiskussion

Die SPD fordert den (bereits begonnenen) Ausbau der Brückenteilzeit, die (bereits bei der Bundestagswahl 2017 geforderte) Einführung der Familienarbeitszeit sowie ein persönliches Arbeitszeitkonto incl. Übertragbarkeit beim Unternehmenswechsel und proklamiert das Recht auf mobiles Arbeiten. Insgesamt sind das gut klingende Absichtserklärungen, die SPD erkennt die Zwiespältigkeit der Entwicklungen (Beschäftigte wollen mehr individuelle Gestaltungsmacht bei den Arbeitszeiten; Entgrenzung von Arbeit wird ein immer größeres Problem und Macht in der Arbeitszeitdiskussion liegt v.a. bei der Arbeitgeberseite) an – jedoch ohne bei mir den Eindruck zu erwecken diese auflösen zu können oder zu wollen.

c) Qualifizierung und Arbeitslosigkeit

Die SPD will aufgrund des “Rechtes auf Arbeit” über beständige Qualifizierung erreichen, dass Arbeitslosigkeit gar nicht erst eintritt. Damit wird der mismatch auf dem Arbeitsmarkt dennoch auf den Arbeitnehmer übertragen, an seinen Qualifikationen soll – unterstützt durch den Staat – “gearbeitet” werden, um einen match zu erzeugen. Eine Kritik an der Wirtschaftsweise oder gar den Produktionsverhältnissen (Exportorientierung, Herbei-Schreien eines Fachkräftemangels von Seiten der Unternehmen ohne selbst in Ausbildung oder Qualifizierung zu investieren) findet hier nicht statt. Aufgegriffen werden Absichtserklärungen bei der Arbeitsversicherung statt Arbeitslosenversicherung und der Weiterentwicklung der Bundesagentur.

Die SPD bestätigt zentral (das ist eine der Kernbotschaften des Papiers und eine Rückkehr zu dieser Auffassung im Interesse der eigenen KernwählerInnenklientel – zumindest in der Selbsterzählung) ihre Orientierung am Lebensleistungsprinzip bei der Arbeitslosenversicherung: Wer länger einbezahlt hat, soll vor dem schnellen Abrutschen bewahrt werden.

So ehrenvoll und nachvollziehbar diese Haltung einerseits ist, so begrüßenswert die Verlängerung der Bezugsdauer (altersunabhängig gekoppelt an die Beitragszeit; bei mindestens 20 Beitragsjahre um 3 Monate, ab 25 Beitragsjahren um 6 Monate und ab 30 Beitragsjahren um 9 Monate) wie auch das ALG Q (bereits aus der letzten Bundestagswahl als Forderung bekannt: Bei mehr als 3 Monaten Bezug von ALG I wird angeboten, ALG Q in selbiger Höhe zu beziehen, dass 12 Monate lang verbunden mit einer gezielten Weiterbildungsmaßnahme anrechnungsfrei bezogen werden kann) ausdrücklich ist, umso mehr verfestigt sich gleichermaßen der Eindruck der Abgrenzung nach unten: Zu denen, die eben nicht gearbeitet haben.

II. Einführung einer Kindergrundsicherung

Die SPD möchte Kinderarmut abschaffen und bekennt sich wie von vielen Wohlfahrtsverbänden gefordert zum Konzept der Kindergrundsicherung. Diese besteht aus 2 Säulen (finanzieller Bedarf eines Kindes: “individuelle Grundsicherung” sowie Infrastrukturleistungen in Kita, Schule, Ganztagesbetreuung und Teilhabe an Förderangeboten: “infrastrukturelle Förderung”). Die Grundsicherung soll sich am Einkommen der Eltern bemessen und sowohl das Existenzminimum als auch den Entwicklungsbedarf des Kindes umfassen. Wie genau diese Leistung ausgestaltet werden soll bleibt völlig unklar.

Klar ist, dass mithilfe der Kindergrundsicherung die Kinder nicht mehr im Bezug von SGB II sein sollen und zumindest insoweit das Prinzip der Bedarfsgemeinschaften überdacht werden soll. Hinzu kommt eine vage Absichtserklärung („Jedes Kind ist gleich viel wert“) hinsichtlich der Umgestaltung von steuerlichen Begünstigungen.

III. Bürgergeld ersetzt Hartz IV

Grundsätzlich nimmt die SPD auch hier Arbeit als Grundelement zur Integration von Menschen in die Gesellschaft an: Über den Ausbau des sozialen Arbeitsmarktes soll jedeR BürgerIn ein Angebot zur Arbeit erhalten. Es wird zudem ein gesetzliches Recht auf Förderung des Nachholens eines Berufsabschlusses eingeführt. Das Stigma Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II wird überwunden, die finanzielle Grundsicherungsleistung soll zukünftig Bürgergeld heißen.

Grundlegend ist es Ziel der SPD AufstockerInnen abzuschaffen, die Arbeit finanzielle ausreichend sein, dass kein Bürgergeld notwendig ist. Solange es jedoch AufstockerInnen gibt, sollen diese von der Bundesagentur für Arbeit betreut werden und nicht mehr vom Jobcenter.

Die SPD erkennt an, dass BezieherInnen von Bürgergeld Respekt erhalten sollen und proklamiert ein soziales BürgerInnenrecht auf den Bezug von Bürgergeld. Hierbei erkennt die SPD vor allem an, dass das maßgeblich von ihr geschaffene und ihr zugerechnete aktuelle Grundsicherungssystem deutliche Mängel aufweist. Unsere Partei bekennt sich dazu den Sozialstaat als Lotsen umbauen zu wollen, will sich für eine Verschlankung und mehr Verständlichkeit einsetzen und die Eingliederungsvereinbarung durch eine Teilhabevereinbarung ersetzen (womit der Fokus mehr auf den Rechten der Bürgergeldbezieher liegen soll). Auch sollen Bürgergeldbezieherinnen, die aus dem ALG I kommen, zwei Jahre ohne Überprüfung von Vermögen oder Wohnungsgröße sein. Die Wohnung verlassen zu müssen, soll perspektivisch ausgeschlossen werden.

2) Analytische Bewertung des Papiers

  • Die SPD geht tatsächlich einen aus meiner Sicht großen Schritt. Man vermutet an der ein oder anderen Stelle gar ein Aufflackern von Überraschung aufgrund des eigenen Wagemuts. Die zitierten Sätze klingen sehr wohl, man positioniert sich als die Kraft der kleinen aber fleißigen Leute. Es findet sich kein nach unten treten im Menschenbild und die Individualisierung von Schicksalen wie Armut und Arbeitslosigkeit wird tatsächlich analytisch aufgebrochen.

  • Gleichzeitig ist die SPD aber auch weiterhin hin- und hergerissen zwischen einem hier in Teilen tatsächlich erfolgenden Bruch mit der eigenen Politik der Vergangenheit und dem Loben der Politik der viel jüngeren Vergangenheit in der erneuten GroKo (den Meilensteinen “Starke-Familien-Gesetz”, “Qualifizierungschancengesetz”, der Behauptung nach der der soziale Arbeitsmarkt schon geschaffen ist).

  • Es ist ein bemerkenswerter Erfolg der Parteiführung um Andrea Nahles, die die individualisierenden Ausflüge des Schröder-Blair-Papiers zurückdrehen und zu versprechen, dass man wieder eine Partei der Arbeit werden will. Dazu legt man auch eine vernünftige Perspektive an den Tag.

  • Gleichzeitig stellt der „Sozialstaat für die neue Zeit“ leider nicht darauf ab, dass in unserer Zeit soviel Reichtum und so viel technischer Fortschritt vorhanden sind, dass allein das Wort Sozialstaat eine Abschaffung von Armut bedeuten müsste. Nicht in relationaler Form, sondern in der Abschaffung des soziokulturellen Ausschlusses von breiten Teilen der Bevölkerung. Nur ein Fortschreiten gesellschaftlicher Voll-Kasko-Ansprüche der Absicherung von individuellen Lebensrisiken kann der Sozialstaat für die unbestimmte Zeit in der Zukunft sein.

Ich kann konkret folgende Punkte im Beschlusspapier bemängeln:

  • Eine vollständige Absage an Sanktionen im Bereich der Grundsicherung erfolgt nicht. Es wird lapidar von der Abschaffung von sinnwidrigen und unwürdigen Sanktionen gesprochen; versichert, dass eine komplett-Sanktionierung genauso wenig erfolgen soll wie U25-Sondersanktionen oder die Kürzung der KdU. Dennoch fehlt die Auseinandersetzung was Sanktionen genau bewirken sollen und wie diese im BürgerInnengeld aussehen könnten.

  • Die Kindergrundsicherung verbleibt bruchstückhaft und ungenau, ihr eigentliches Prinzip (Unabhängigkeit des Einkommens der Eltern, Überführung aller Leistungen) wird nicht umgesetzt (Kopplung an das Einkommen der Eltern, Abstand von Forderungen nach der Streichung des Kinderfreibetrags).

  • Einer Debatte um die Höhe des Regelsatzes wird vollständig ausgewichen, damit handelt es sich nur begrenzt um eine armutspolitische Debatte und es scheint als sei Armut kein Thema für die SPD wenn es nicht um Kinder geht.

  • Genauso werden die Zumutbarkeitskriterien nicht angegriffen – der Gedanke der Freiwilligkeit der Arbeitsaufnahme findet sich nicht wieder.

  • Auch die Vermögenswerte werden nicht grundlegend überdacht, sondern “nur” zwei Jahre nicht angetastet, wenn die Person vorher im ALG I war.

  • Eine Regionalisierung des BürgerInnengeldes (für Gebiete mit höheren Lebenshaltungskosten eine Kernforderung) wird nicht thematisiert.

  • Inwieweit das Prinzip der Bedarfsgemeinschaft bei zusammenlebenden Paaren im BürgerInnengeld aufrecht erhalten wird oder nicht verbleibt unklar.

Letztlich zeigt sich trotz dieser fehlenden Punkten, dass sich die SPD (wieder) zur Anwältin von Menschen macht, die lange Jahre sozialversicherungspflichtig gearbeitet haben/arbeiten werden. Die SPD nimmt auch Machtverschiebungen durch Änderungen in der kapitalistischen Produktionsweise und daraus resultierend in Organisierbarkeit der ArbeitnehmerInnen zur Kenntnis bzw. sucht nach Auswegen für diese Phänomene. Gleichermaßen ist Armutsbekämpfung hier schon im Denken beschränkt auf arbeitsfähige BürgerInnen und es werden sowohl makroökonomische und/oder regional unterschiedliche Voraussetzungen nicht bedacht wie die Notwendigkeit eines tatsächlichen individuellen sozialen Bürgerinnenrechtes auf die staatliche Gewährung eines soziokulturellen Existenzminimums negiert.

3) Herausforderungen für die Jusos im weiteren parteiinternen Diskurs

Grundlegend ist klar, dass die Parteiführung hier auf viele Kritikpunkte der Jusos eingegangen ist und dieses Papier zu begrüßen ist. Meiner Auffassung nach müssen wir Jusos des weiteren zwei Punkte in den Fokus nehmen:

  • Grundsicherung/Hartz-IV/Bürgerinnengeld ist unabhängig vom Namen unweigerlich eine Frage der Armutsbekämpfung und muss aus dieser Perspektive gedacht werden. Die Veränderungen in der Haltung sind sehr zu begrüßen, aber Armutsbekämpfung macht nicht vor materiellen Gesichtspunkten halt. Die SPD muss mehr sein als die Partei, die die Interessen von Menschen vertritt, die “regulär” gearbeitet haben oder genau das tun. Wir dürfen diesen Kampf nicht aufgeben und müssen weiterhin für ein sanktionsfreies soziales BürgerInnenrecht jeder Person in Deutschland auf finanzielle Gewährung eines am tatsächlichen Bedarf ausgerichteten Betrages, der das soziokulturelles Existenzminimum deckt, einstehen.
  • Die Kindergrundsicherung muss als Forderung nach einer Kinder- und Jugendgrundsicherung dringend konkretisiert werden. Sie muss alle momentanen kindbezogenen sozialpolitischen- oder einkommenssteuerbezogenen Leistungen/Vorteile (UVG, KiG, Kindergeldzuschlag, BaföG, Berufsausbildungsbeihilfe, Anteile von kindbezogenen Leistungen im SGB-II) ersatzlos zusammenführen und einen völlig neuen eigenen kindbezogenen Anspruch schaffen. Die Kinder- und Jugendgrundsicherung soll durch die Familienkassen der Bundesagentur für Arbeit geleistet werden und einen Rechtsanspruch gegenüber dem Bund darstellen. Sie soll finanziell anhand des soziokulturellen Existenzminimums bzw. der durchschnittlichen Lebenshaltungskosten in den Altersstufen 0-6, 7-12, 13-18, 18-25 ermittelt werden. Über die Volljährigkeit hinaus soll dieser Anspruch bestehen, insofern der/die Jugendliche nicht selbst finanziell abgesichert ist (mehr eigenes Einkommen, als das einkommensteuerrechtliche Mindesteinkommen/Jahr).

Mit der Fokussierung auf diese beiden Punkte positionieren sich die Jusos sowohl gesamtgesellschaftlich als auch speziell als emanzipatorische Jugendbewegung innerhalb der SPD auf der Seite derjenigen, die selbst nicht sprechen werden. Es geht darum, dass wir in der derzeitigen politischen Gemengelage weiterhin die SPD treiben. Mit der weiteren Thematisierung beider Punkte auf Parteitagen, in Auseinandersetzung mit der SPD, im Gespräch mit Wohlfahrtsverbänden usw. kann es gelingen tatsächlich an sozialstaatlichen Veränderungen zu arbeiten, die über den Tag hinaus gehen.

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