Der Terror des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) hat zehn Menschen das Leben gekostet und doch ist das Terrortrio mehr als eine Dekade von Strafverfolgung unbehelligt geblieben.
Diese unfassbare Spur des Grauens hat ein dementsprechend unvergleichlich großes Interesse am Strafprozess gegen Beate Zschäpe sowie vier mutmaßliche Helfer begründet. Neben der Frage der juristischen Schuld, richteten sich die Erwartungen der Öffentlichkeit und der Nebenkläger von Anfang an auch darauf, dass der Prozess Licht ins Dunkel brennender Fragen bringen sollte: Wieso hat man die rassistischen Muster der Taten nicht erkannt und stattdessen das Umfeld der Opfer beschuldigt? Welche Rolle spielten V-Männer der Sicherheitsbehörden? Hat sich der Verfassungsschutz durch fahrlässiges Unterlassen oder gar indirekt durch aktives Tun in Schuld verstrickt?
Dass diesen hohen Anforderungen im Strafprozess, der vom beharrlichen Schweigen der Hauptangeklagten geprägt wird, bislang nur ungenügend entsprochen wurde, zeigt Elfriede Jelineks „Das schweigende Mädchen“, das zur Zeit in den Kammerspielen gegeben wird.
In der von Johan Simons inszenierten Aufführung kristallisiert sich aus dem Gerichtsprozess eine Anklage der deutschen Gesellschaft, die sich abschotten will und deren Behörden blind für das offensichtliche Unrecht sind, das Menschen mit anderen „Hintergründen“ angetan wurde.
Jelineks Prozess wird geleitet von einem Richter, dessen Sicht dadurch verengt wird, dass sein rechtes Brillenglas fehlt und dessen Sprache sich in redundanten, juristischen Leerformeln erschöpft, die weder Empathie erkennen lassen noch den Prozess tatsächlich voranbringen.
Verschränkt wird diese Ebene des kafkaesken Prozesses mit einer biblischen Dimension, worauf die Jesusgestalt auf der Bühne schon früh hinweist.
Jelinek deutet die Konstellation von Zschäpe, Mundlos und Böhnhardt als Heilsgeschichte mit umgekehrtem Vorzeichen: Als eine Unheilsgeschichte der Jungfrau (Zschäpe), die mit ihren Söhnen Unheil über das „gelobte“ Land (Deutschland) zu bringen bestimmt ist. Sie variiert die Motive der religiösen Überhöhung eines Landes, einer schicksalhaften Jüngergemeinschaft und das Opfer des eigenen Lebens für eine „höhere“ Idee.
Die eingestreuten Musikpassagen erinnern an das Wechselspiel von Rezitativ und Arien in den Passionswerken von Bach, wodurch das Motiv der Unheilsgeschichte noch unterstrichen wird.
Dieser Kunstgriff Jelineks die biblischen Motive der Passionsgeschichte und des Jüngsten Gerichts umzudeuten, ja umzukehren und sie auf das Neonazi-Gespann anzuwenden, erlaubt es höchst spannende Kontraste zu zeichnen. So steht etwa jesuanische Gewaltlosigkeit in diametralem Gegensatz zur unmenschlichen Brutalität der Terroristen, so steht die Dreiecksbeziehung gegen die Idee der Jungfrau.
Obwohl die Zusammenhänge und Widersprüche solcher Assoziationen auch von den Figuren auf der Bühne oft ironisch erörtert werden, ist es nicht leicht all diese Bezüge zu dechiffrieren.
Doch gerade dort wo das Stück einem hermetisch, in seinen Motivverschränkungen unentwirrbar vorkommt, spiegelt sich auch die Schwierigkeit der Aufklärung des realen Tatgeschehens.
Das Stück will keinen Überblick verschaffen: Im Gegenteil. Es dringt tief in den Dschungel von unerhörten Behördenpannen, über die Ignoranz weiter Teile der Gesellschaft bis hin zu einem gestörten Verhältnis zur nationalen Identität, dem die braunen Schatten der Vergangenheit noch anhaften.
Wenn man das Theater verlässt, ist man deshalb nicht besser „informiert“, sondern erschüttert und voller Fragen und Zweifel.
Jedenfalls erging es so den Jusos München-Süd, die das Stück am 10. März gemeinsam besuchten. Vor und nach der Vorstellung wurde über Theater und schreckliche Wirklichkeit ausgiebig diskutiert.
Schließlich war man sich einig, dass wir diesem historischen Prozess auch in Zeiten abnehmenden Interesses, höchste Aufmerksamkeit widmen und darüber hinaus alles unterstützen sollten, was dazu beiträgt, dass sich so eine Terrorserie nie mehr wiederholen kann.
Johannes Waller