Bundestagswahlen 2017 – ein Kommentar

Das Ergebnis bedeutet klare Opposition im Bund und Analysebedarf auch in München

Das Ergebnis der Bundestagswahlen 2017 ist aus zweierlei Gründen ein Desaster. Einerseits hat die SPD eine Niederlage historischen Ausmaßes erfahren, andererseits ist mit der AfD eine in großen Teilen neonazistische Partei in das Parlament eingezogen. In München haben wir mit 16,2% ebenfalls ein niederschmetterndes Ergebnis, als SPD sind wir nur dritte politische Kraft und haben erneut kein Direktmandat gewinnen können.

Die ersten Reaktionen am Wahlabend zeigen uns : Die SPD scheint bereit ihre politische Rolle wenigstens kurzfristig neu zu definieren. Eine weitere Regierungsbeteiligung mit der Union, die noch stärker verloren hat, wurde glaubhaft ausgeschlossen. Dennoch lassen die Entwicklungen danach bereits wieder an ein „Weiter so“ an der Parteispitze glauben. Die Bundestagsfraktion erhält vom Parteivorsitzenden vor ihrer ersten Zusammenkunft bereits eine Vorsitzende in einem fein-säuberlich ausgehandelten Personaltableau vorgesetzt, vom Generalsekretär ganz zu schweigen. Zwar gibt es Regionalkonferenzen, allerdings kennen wir dieses Vorgehen bereits. Über die Wortmeldungen der „Granden“ Schröder, von Dohnanyi, aber auch hier aus München, lohnt sich selbst Verärgerung nicht sonderlich.

Doch unabhängig von Personalfragen stellen sich für mich, und so glaube ich auch für die Jusos München, sowohl bezogen auf die Bundespolitik als auch für die Münchner Stadtpolitik zuerst mehr Fragen, als vorschnelle Antworten und Forderungen. Zu Fragen ist von zentraler Bedeutung. Auch wenn es Fragen und Analyseprozesse nach verlorenen Wahlen immer wieder gibt und die Rufe nach Erneuerung der SPD, beispielsweise gerade vorgetragen aus dem Kreis um den Abgeordneten Marco Bülow oder SPD++, ist es mindestens notwendig offen zu streiten. Eine Analyse zu verhindern oder sich nicht daran zu beteiligen und lediglich über Personalien zu diskutieren, wäre fatal. Wenn die SPD aus dieser Situation positiv herauskommen wird, dann nur mit einer lebendigen Diskussionskultur, in der es erlaubt sein muss, um Analyse und Bewertung zu streiten. Für mich stellen sich drei Fragen, die ich aufwerfe und erste Anhaltspunkte zu ihrer Beantwortung glaube liefern zu können. Am Ende jeden Absatzes jedoch, stellen sich weitere Fragen, für die die SPD auch Beschlüsse fassen sollte. Nur ein breites und beständiges Ringen um den richtigen Weg hilft der Sozialdemokratie dabei erneut eine Leitidee in der Gesellschaft zu werden. Und nur dann können wir Wahlen gewinnen. Und nur dann können wir auch erfolgreich regieren. Nichts zeigt das mehr, als die mitunter orientierungslose Sozialdemokratie in der Regierungsverantwortung der jüngeren Vergangenheit. Wenn wir nur das sagen, was politisch auch innerhalb der Partei opportun ist, was Einzelpersonen nützlich erscheint um anerkannt zu werden, sind wir Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Viel zu oft habe ich das schon wieder innerhalb der letzte Woche nach der Wahl gehört.

1) Wie weiter mit der AfD umgehen?

Im Wahlkampf sind sowohl an den Türen als auch an den Infoständen, bei Nachtverteilaktionen oder bei Straßenaktionen immer wieder WählerInnen auf mich zugekommen, die von Beginn an vorgefertigte Geschichten erzählten, die voll waren an rassistischen und meist islamophoben Vorurteilen und Aussagen oder mindestens eine Ablehnung der sg. Flüchtlingspolitik von Angela Merkel (eigentlich muss man sagen: lediglich der Entscheidung von Herbst 2015, das Schengener Abkommen kurzzeitig außer Kraft zu setzen; denn die Verschärfungen im Asylrecht oder die letztliche Schließung der sg. Balkanroute über das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei waren kein Thema. Das vermeintliche „dem Volk auf das Maul schauen“, dass die Große Koalition unter Führung der angeblich so mütterlichen Kanzlerin im Anschluss an den Herbst 2015 durchführte, spielten zu keinem Zeitpunkt in diesem Wahlkampf irgendeine Rolle) ausdrückten. Es ging beispielsweise um „schwarzfahrende“ AsylbewerberInnen, Vergewaltigungen, oder vermeintlichen Betrug bei der Flucht nach Deutschland. Thematisiert wurde also selbst-empfundenes Unrecht, von welchem niemand eigentlich betroffen war. Oft konnte ich bei den BürgerInnen für Mitgefühl werben, die Begebenheiten hinterfragen und einordnen, auf andere tatsächliche Probleme unserer Gesellschaft hinweisen. Dennoch ist es in hohem Maße problematisch, dass so viele einem Wahlkämpfer der SPD gegenüber den Drang haben, von sich aus dieses vermeintliche Unrecht anzusprechen. Fast alle davon würde ich nicht als rechtsextrem oder neonazistisch einschätzen. Vielmehr handelt es sich um BürgerInnen, die in Kleidungsstil und Wortwahl klassischerweise SPD-WählerInnen sein dürften. Niemand der Personen geht es selbst objektiv in irgendeiner Form schlechter, durch das was sie angesprochen haben, sie waren davon praktisch nicht betroffen. Aber mir wollten sie davon erzählen, dass sie ein Unrecht empfinden, was durch Politik mit-hervorgerufen wurde.

Die SPD steht wahrscheinlich zukünftig als stärkste Oppositionspartei der Regierung gegenüber. In hohem Maße wichtig wird dennoch auch die Positionierung gegenüber der Linkspartei und der AfD sein. Die AfD wird weiterhin wie bisher versuchen, den Raum des Sag-baren nach Rechts außen zu öffnen, die politische Kultur nach rechts zu verschieben und alles denkbare aus den Bereichen Sicherheit, Integration, Geflüchtete zu skandalisieren, mit Halb- und Unwahrheiten arbeiten und sich nicht in parlamentarische Abläufe einpassen. Niemand von denen hat ein Interesse an tatsächlichen politischen Auseinandersetzungen – nicht an der besseren Argumentation oder dem besten Gesetzesvorschlag. Das zeigen die Erfahrungen der letzten Jahre aus den Landesparlamenten und Wahlkämpfen, genauso wie diejenigen beispielsweise aus Österreich mit der FPÖ oder aus Frankreich mit dem Front National. Für uns als Jusos ist klar, dass die SPD unter keinen Umständen mitmachen sollte, bei Versuchen die Linke und die AfD als extreme Ränder an zwei Seiten gleichzusetzen. Ein Vergleich hilft hier niemandem, da es sich nicht ansatzweise um vergleichbare Parteien handelt. Die Positionierung der SPD innerhalb der Opposition ist bereits entscheidend.

Für uns ist genauso klar, dass ein Hinterherlaufen, ein Aufgreifen der Problembeschreibungen der AfD nicht zielführend ist. Eine rationale Erklärung auf emotionale Scheinprobleme greift offenkundig nicht genug. Die oben angesprochenen WählerInnen haben weder die Verschärfungen im Asylrecht, noch die Schließung der Balkanroute oder die rassistischen Ausfälle von Seehofer oder Scheuer sonderlich beeindruckt. Sondern sie wandten sich an die SPD. Und das mit einem emotionalem Empfinden von Ungerechtigkeit gegenüber dem vermeintlichen Fehlverhalten von Menschen, die vor Bürgerkrieg oder aus anderen Notlagen geflohen sind. Hierfür müssen wir, muss die SPD Antworten liefern. Was ist unsere Strategie gegenüber der AfD und ihren WählerInnen vor dieser Gemengelage?

Gleichermaßen kam es im Bundestagswahlkampf immer wieder zur Auseinandersetzung mit der Frage, ob unsere KandidatInnen auf Podien in Schulen, von Vereinen und Verbänden gehen sollten, wenn dort auch KandidatInnen der AfD eingeladen sind. Es gab hierzu einen mit breiter Mehrheit gefassten Parteitagsbeschluss der BayernSPD, der dies deutlich ausgeschlossen hatte. Die Jusos Bayern haben unseren KandidatInnen freundliche Erinnerungsbriefe geschrieben. Was bedeutet das Wahlergebnis der AfD, die anzunehmende weitere Normalisierungstendenz bei Medien und im öffentlichen Diskurs für unsere KandidatInnen für die Landtagswahlen und Kommunalwahlen?

2) Was heißt das Wahlergebnis bzgl. einer Koalition mit CDU/CSU?

Die Koalition von CDU/CSU und SPD im Bund wurde deutlich abgewählt. Viele von uns waren bereits bei der Mitgliederbefragung 2013 gegen die GroKo. Dennoch hat die SPD durchaus einige wichtige Gesetze in der GroKo durchbringen können. Aus der GroKo dann in den Wahlkampf zu gehen, war (wie von den GegnerInnen vorhergesagt) vor allem strategisch sehr schwierig. Die Mehrheit der Bevölkerung nimmt der SPD ihre Progressivität immer weniger ab, wenn sie vorher in der Regierung war und nicht herausstellt, das Regierungshandeln Kompromiss bedeutet hat. Oft hatte man den Eindruck: Wir fordern schon nur noch, was in der GroKo durchsetzbar wäre. So ist nicht verwunderlich, wenn es beispielsweise im Wahlkampf nicht gelingt WählerInnen von der SPD zu überzeugen, wenn die Erfolge wie der Mindestlohn nicht in den Fokus der Öffentlichkeit gebracht werden. Beispielsweise mit der Forderung nach einer Erhöhung oder einer Wegnahme, der von der Union verschuldeten Ausnahmen beispielsweise für Langzeitarbeitslose.

Letztlich war die Große Koalition auch deswegen innerhalb der Partei 2017 gefühlt viel weniger durchsetzungsfähig, selbst bei diversen VertreterInnen der Parteirechten, weil sie inhaltlich nichts mehr anzubieten hatte. Sowohl 2005 als auch 2013 träumten einige davon, dass mit der großen Mehrheit wegweisende Entscheidungen beim Föderalismus oder in grundlegenden Fragen möglich wären. Letztlich waren aber, was die zentralen Problemlagen anging, die beiden letzten Großen Koalitionen immer vor allem Stillstand, den die Bevölkerung auch deutlich wahrgenommen hat. Dieser empfundene Stillstand nutzt niemals der SPD. Alle „Projekte“, die uns überzeugen sollten für die Große Koalition zu stimmen, wären in einer anderen denkbaren Regierung schneller, einfacher und besser umgesetzt worden. Diejenigen inhaltlichen Forderungen der Sozialdemokratie, die ich als fortschrittlich empfinde, weisen im hohen Maße Schnittmengen mit der Linkspartei und den Grünen auf. Was für Schnittmengen hat man mit der Union denn? Wie leer die Formel der staatspolitischen Verantwortung tatsächlich ist, sah man bereits am Wahlabend: Während 2013 die Verantwortung für „das Land“ und eine „stabile Regierung“ herhalten durften um die GroKo zu begründen, ist es nun dieselbe staatspolitische Verantwortung, die herhalten darf um in die Opposition zu gehen, weil ja die stärkste Oppositionspartei nicht die AfD sein darf. Beide Begründungen sind inhaltlich völlig leer. Politische Auseinandersetzungen, die im Wahlkampf immer stattfinden, auch wenn Merkel die Strategie der Demobilisierung fährt, und natürlich auch die Frage von Koalitionen sind nicht gezeichnet von Nützlichkeit für das Land. Sondern von Nützlichkeit für Interessengruppen. Wem hilft welche Politik? Und diese Frage ist nicht trennbar von der Frage nach Koalitionen.

Was für Konsequenzen ergeben sich aus dem Ende der Große Koalition auch für das Bündnis im Münchner Rathaus? Was für Konsequenzen ergeben sich auch für die anstehenden Landtagswahlen? Kann die SPD in großen Koalitionen überhaupt langfristig Politik für die Teile der Bevölkerung machen, die sie vertreten will?

3) Was heißt das Wahlergebnis bzgl. der inhaltlichen Positionierung der SPD?

Für ein Deutschland, in dem wir gut und gerne leben. Das war der Slogan der CDU für die Bundestagswahl. Zeit für mehr Gerechtigkeit. setzte die SPD. In gewisser Weise dagegen: Die einen für ein Beibehalten des bisherigen, die anderen für ein mehr an Gerechtigkeit.

Es glaubten noch nie seit dem 2. Weltkrieg weniger Menschen daran, dass ihr Leben besser wird, als das ihrer Eltern. Die große Erzählung, leiste etwas, bilde dich weiter und vertraue darauf, dass es dir dann besser gehen wird – zuvorderst materiell, aber natürlich auch darüber hinaus, dass du in der Sozialdemokratie dafür kämpfen kannst, sie verfängt nicht mehr. Die Gründe hierfür sind meines Erachtens nach natürlich in der Politik der letzten Jahre zu suchen und können nicht auf vermeintliche Sachzwänge (wir kennen sie alle: demographischer Wandel, Globalisierung, notwendige Exportorientierung usw.) geschoben werden. Egal was in unserer Gesellschaft passiert, es ist von Politik gestaltbar. Also muss sich auch die SPD, die von 1998 bis 2017 nicht weniger als 15 Jahre lang selbst an der Regierung beteiligt war, die Frage stellen, wie das sein kann. Gerade der SPD, mit dem auch bei der Bundestagswahl richtigerweise angesprochenen Kerninhalt (einen Markenkern hat vielleicht Aldi oder VW, aber keine Partei oder politische Bewegung), der Gerechtigkeit und ihrer Einforderung, hat es geschadet, dass immer weniger Leute daran glauben, dass ihr Leben besser werden kann. Dies sorgt für ein Glaubwürdigkeitsproblem für die SPD. Wer sich aber die Entwicklung der Vermögensverteilung anschaut, wer darüber nachdenkt, wie sehr der Druck auf Arbeitslose gewachsen ist und welche Bedrohung genau, dass auch für alle Beschäftigten darstellt, der wundert sich darüber auch nicht. Wer überlegt, wie viel die Ausweitung von prekärer Beschäftigung gerade für die Lebenssituation von jungen Menschen am Berufsanfang bedeutet, der versteht auch, warum diese keine Hoffnung auf ein besseres Leben und deren politische Umsetzbarkeit haben. Wie es anders geht, zeigen Corbyn oder Sanders.

Aber konkret: Welche junge Menschen, ohne selbst zu erben, werden es sich in München leisten können, das zu tun, was für ihre Altersvorsorge das vorgelebte Ideal ist, nämlich Immobilien zu erwerben? Ihre Eltern konnten es vielleicht noch. Aber heutzutage glauben daran Kinder nicht-reicher Eltern in Großstädten wie München nicht mehr. Ist es überhaupt zielführend privates Eigentum in Immobilien als Ideal vorzugeben und politisch zu fördern in einer Stadt, die an ihre Grenzen stößt? Selbst die Mietpreise stellen für junge Menschen ein Riesenproblem dar. Die geförderte private Vorsorge für das Alter ist nicht ansatzweise machbar. Und das angesichts eines sinkenden Rentenniveaus. Überrascht es dann, dass diese Menschen nicht mehr glauben, es würde ihnen besser gehen können? Was bedeutet für diese jungen Beschäftigen, AzubInnen, auch Studierenden oder SchülerInnen dann Zeit für mehr Gerechtigkeit? Gerechtigkeit nur für einen selbst? Sorge ich privat vor? Schließe ich eine private Krankenzusatzversicherung ab, weil ich dann natürlich ChefärztInnenbehandlung und Einzelzimmer haben möchte? Genau das, wird die ganze Zeit jungen Menschen vorgelebt.

Zeit für mehr Gerechtigkeit kann für die gesamte politische Linke nach dieser Wahl nur bedeuten, die Politik des Neoliberalismus aufzuarbeiten. Die SPD hat hier eine sehr große Verantwortung: Mehr Gerechtigkeit, dieses Versprechen war ja durchaus in Teilen im Wahlprogramm enthalten. Aber wo war die Kampagne zur BürgerInnenversicherung, die plastisch das Gerechtigkeitsdefizit anspricht und glaubhaft erklärt wie und mit wem man das ändert? An plastischer Ansprache war Martin Schulz meines Erachtens der beste Kandidat, seit 2005, seitdem ich in der SPD bin. Aber glaubwürdig für die Umsetzung, das scheint es nur ein kurzen Moment gewesen zu sein.

Die Konfrontationslinie die in der Politik verhandelt wird, teilweise bis in das private Umfeld jedes und jeder Einzelnen hinein, wird zwischen Hass auf andere (beispielsweise Geflüchtete, Arbeitslose, finanziell Schwache, bei Peter Tauber auch schon geringfügig Beschäftigte) und Hoffnung auf ein besseres Leben sein. Aber nur dann, wenn es gelingt das Dogma des Neoliberalismus, jeder müsse für sich selbst sorgen zu überwinden, werden wir gewinnen. Dieses Dogma bedeutet im Umkehrschluss, dass alle finanziell Schwachen, Arbeitslosen, alle anderen, selbst an ihrer Situation Schuld haben, eben weil sie sich nicht genug anstrengen würden. Genau dieses Denken, das heute noch handlungsleitend ist, gilt es zu ersetzen: Durch eine neue sozialdemokratische Erzählung. Wie soll diese aussehen? Benötigt es hierfür perspektivisch ein neues Grundsatzprogramm?

Ein Kommentar von Christian Köning

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